Sozialhilfe in Österreich reformieren: Gute Mindestsicherung für den Ernstfall, statt schlechter Sozialhilfe, die in der Not nicht ausreichend hilft.
Gute Mindestsicherung statt schlechter Sozialhilfe!
Mindestsicherung heißt, ein Leben in Würde für alle sicherzustellen. Sie sichert die Existenz von Alleinerziehenden und deren Kindern, ist Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen und verhindert ein Abrutschen in absolute Armut.
Die Abschaffung der Mindestsicherung und das verabschiedete neue Sozialhilfegesetz ist ein Rückschritt in der Armutsbekämpfung in Österreich.
Warum die neue „Sozialhilfe“ ein Rückschritt ist
Wer Ärmeren helfen will, darf zur schlechten Sozialhilfe nicht schweigen. Weiterhin gibt es nur Höchstsätze statt Mindeststandards, weiterhin gibt es zu wenig fürs Wohnen, weiterhin existiert die Pflicht zur Unterhaltsverfolgung bei Menschen mit Behinderungen, weiterhin ist das Ziel der Armutsbekämpfung im Sozialhilfegesetz gestrichen. Kinder sind von Kürzungen gravierend betroffen und vielfach in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Die Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft hat sich mit der Sozialhilfeeinführung stark erhöht. Eine weitere massive Verschlechterung betrifft die Leistungen fürs Wohnen, auch die Wohnbeihilfe wird jetzt von den zuständigen Behörden einbehalten.
Die Abschaffung der Mindestsicherung und das verabschiedete neue Sozialhilfegesetz sind ein Rückschritt in der Armutsbekämpfung in Österreich. Das neue Gesetz verschärft bestehende Armutslagen, degradiert Betroffene zu „Bittstellern“ und eröffnet neue Hürden und Unsicherheiten, mit denen Menschen in schwierigen Lebenssituationen konfrontiert werden.
Statt in einer Krisensituation Schutz zu bieten, führt das Gesetz zu einer Ausbreitung der Not wie Beispiele aus Niederösterreich, Salzburg und Oberösterreich zeigen. Die negativen Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen, Wohnen, Frauen in Not, Gesundheit, Kinder und Familien sind massiv. Und trifft alle.
Die sozialen Probleme werden größer. Und die schlechte „Sozialhilfe“ kann sie nicht lösen. Die Coronakrise und die Teuerungen zeigen, wie wichtig jetzt eine gute Mindestsicherung wäre statt einer schlechten „Sozialhilfe“, die Menschen in Notsituationen nicht auffängt. Erhebung zur „Sozialhilfe“ aus Sichtvon Expert:innen der sozialen Praxis.
Die Diakonie setzt sich für effektive Armutsbekämpfung ein und fordert eine Sanierung und Reform der „Sozialhilfe“.
Fragen und Antworten zur Sozialhilfe
Es sind Leute wie du und ich. Junge und Alte, Mütter und Väter, Familien.
41% befinden sich in der Schule oder bereits in Pension, 9% sind aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen oder Behinderungen nicht arbeitsfähig, 5% besuchen die Schule über das Pflichtschulalter hinaus. Knapp die Hälfte der unterstützten Personen hat keine anrechenbaren Einkünfte. Bei jenen mit Einkünften haben 15% ein Erwerbseinkommen, 38% beziehen Arbeitslosenleistungen (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe etc.) und 47% diverse Einkommen (Unterhalt, Kinderbetreuungsgeld, Pension etc.). Weitere 38% sind erwerbsarbeitslos. 8% sind voll erwerbstätig und beziehen Sozialhilfe wegen zu geringer Lohneinkommen.
264.752 Personen leben 2021 in Haushalten mit Sozialhilfe, pro Monat sind es durchschnittlich 199.173 Personen,
Gemessen an den Gesamtsozialausgaben entsprechen die Ausgaben für die BMS einem Anteil von 0,9 Prozent, gemessen am Gesamtbudget nur 0,4 Prozent. Das wird den Sozialstaat nicht zusammenbrechen lassen.
Insgesamt kommt die Sozialhilfe den ärmsten drei Prozent der Bevölkerung zugute.
Quelle: Statistik Austria 2021.
Die Hauptbetroffenen einer Kürzung sind Kinder.
70.590 Kinder leben in Familien mit Sozialhilfe. Ein Viertel der mit Sozialhilfe unterstützten Menschen sind also minderjährig. Die Hauptbetroffenen der Kürzung sind die Kinder.
Kinder und Jugendliche, die in Haushalten mit niedrigem Einkommen aufwachsen, werden in mehreren Bereichen benachteiligt:
- Gefahr des sozialen Ausschlusses: Beispielsweise ist die Teilnahme an kostenpflichtigen Schulaktivitäten nicht möglich.
- Sozialhilfebezieher:innen mit Kindern leben häufig in schlechten Wohnsituationen. Desolates Wohnen wirkt sich besonders hemmend auf Bildungschancen und die Gesundheit der Kinder aus: Feuchtigkeit, Fäulnis, Überbelag, dunkle Räume.
Eine schlechte Sozialhilfe bringt damit die Zukunftsperspektiven der Kinder ernstlich in Gefahr. Dies steht dem Ziel, Armut und sozialer Ausgrenzung nachhaltig entgegenzuwirken und folglich auch eine „Vererbung“ von Armut über Generationen zu vermeiden, diametral entgegen.
All das hat Folgen: Die armen Kinder von heute sind die chronisch kranken Erwachsenen von morgen.
Die durchschnittliche Leistungshöhe liegt 2021 bei 712 Euro, pro Person bei 381 Euro.
73 Prozent haben eine Bezugsdauer von länger als einem halben Jahr, 13 Prozent erhielten vier bis sechs, die restlichen 14 Prozent maximal drei Monate eine Leistung der Sozialhilfe.
Quelle: Statistik Austria 2021
Eine Studie der Statistik Austria (2020) gibt ein realistisches Bild über die Lebensbedingungen von Menschen im untersten sozialen Netz.
Was auffällt:
- sehr hohe Raten bei gesundheitlichen Einschränkungen, chronischer Krankheit und Behinderung
- starke negative Effekte bei Wohnsituation
- massive Auswirkungen auf Gesundheit, Chancen und Teilhabe bei Kindern
- viele Familien mit Kindern sind arm trotz Arbeit: Working Poor
Menschen im letzten sozialen Netz sind von ihren Wohnkosten deutlich stärker belastet als der Rest der Bevölkerung. Gleichzeitig können elf Prozent ihre Wohnung nicht warmhalten. Das ist fünfmal öfters als alle anderen.
Die Wohnungen der Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, sind nicht nur kleiner, sondern auch von schlechterer Qualität, wie die Erhebung zeigt. 21 Prozent geben an, dass in ihren Wohnungen Feuchtigkeit, Fäulnis oder Undichtheit vorhanden ist. Elf Prozent der Haushalte können die Wohnung nicht warm halten.
Starke Benachteiligung von Kindern mit vielen negativen Auswirkungen
Desolates Wohnen wirkt sich besonders hemmend auf Bildungschancen und die Gesundheit der Kinder aus: 20 Prozent der Kinder müssen in feuchten Wohnungen leben, 56 Prozent der Wohnungen sind überbelegt, in 25 Prozent gibt es Lärmbelästigung.
Kinder und Jugendliche, die in Haushalten mit niedrigem Einkommen aufwachsen, haben Nachteile, die in mehreren Bereichen sichtbar werden. Die Gefahr des sozialen Ausschlusses zeigt sich in den geringeren Möglichkeiten, Freund:innen einzuladen, Feste zu feiern und an kostenpflichtigen Schulaktivitäten teilzunehmen. Kinder im untersten sozialen Netz können 15-mal weniger an Sport und Freizeitaktivitäten teilnehmen, zehnmal weniger Feste feiern, sechsmal weniger Einladungen an Freund:innen stellen, elfmal weniger an Schulaktivitäten teilnehmen.
Working Poor
Dabei haben mehr als die Hälfte der Familien mit Kindern (57 Prozent) Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Das weist auf Working Poor und prekäre Arbeit hin. Working Poor ist das große verschwiegene Thema hinter der Debatte um die Sozialhilfe.
Gesundheitlich angeschlagen
Weiters weisen 29 Prozent einen sehr schlechten Gesundheitszustand auf, 25 Prozent sind stark beeinträchtigt durch Behinderungen, 55 Prozent chronisch krank.
Quelle: Statistik Austria (2020): Sonderauswertung zu Lebensbedingungen von Mindestsicherungsbeziehenden und ihren Haushalten, Tabellenband
Ein Großteil der Bezieher:innen befindet sich in Städten. Die sozialen Risiken werden in die Städte exportiert. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn man die Verteilung der Sozialhilfebezieher:innen betrachtet.
Die Inanspruchnahme von bedarfsgeprüften Sozialleistungen ist in Großstädten in ganz Europa um ein Vielfaches höher: Weil eine große Zahl Einkommensarmer aus Scham vom Land in die anonymere Stadt zieht, weil der Anteil der Besitzer:innen eines Eigenheims unter den Einkommensarmen in Städten deutlich niedriger ist als am Land, weil Informations- und Hilfsstellen dichter vorhanden sind und weil manche Sozialämter einen besonders schikanösen und bürger:innenunfreundlichen Vollzug aufweisen.
Dass in den Städten Österreichs die Inanspruchnahme höher ist, ist also nicht überraschend.
Die Sozialhilfe ist nicht leicht zu bekommen. Für viele sind die Barrieren sehr hoch, um an die notwendige Hilfe zu gelangen. 30 Prozent bekommen nicht, was ihnen helfen würde. Diese „Non-Take-Up“-Quote ist am Land noch wesentlich höher als in den Städten.
Ein Leistungsmerkmal sozialer Schutzsysteme ist, ob dessen Hilfe die Menschen erreicht, die es erreichen will. Erreicht es sie nicht, weist uns das auf Fehler im Design und in der Implementierung hin. Und es hat Folgen
- verhindert erfolgreiche Bekämpfung von Notlagen
- schafft ungerechtfertigte Ungleichheiten zwischen den berechtigten Zielgruppen
- führt zu höheren sozialen und ökonomischen Kosten, weil Gesundheitsprobleme bedrohlich werden, Chancen für Kinder eingeschränkt werden oder Obdachlosigkeit droht
Wäre die Inanspruchnahme „vollständig“, würde die Armutsgefährdung in Österreich um fast ein Prozent sinken, das hieße 60.000 Menschen weniger in Armut.
Was den Unterschied macht – was die Inanspruchnahme erhöht: Rechtssicherheit, Verfahrensqualität, Anonymität, bürger:innenfreundlicher Vollzug, Verständlichkeit, Information und De-Stigmatisierung der Leistung. Die Einführung der Mindestsicherung 2010 hat übrigens zu einem deutlichen Rückgang der Nichtinanspruchnahme geführt. So haben 2009 114.000 Haushalte (51 Prozent) trotz Berechtigung Sozialhilfe nicht in Anspruch genommen. Mit Einführung der Mindestsicherung sank dieser Wert bis 2015 auf 73.000 Haushalte (30 Prozent). Mit der Abschaffung der Mindestsicherung 2020 ist ein Anstieg der Nicht-Inanspruchnahme zu befürchten.
Zehntausende Menschen in Österreich erhalten offensichtlich nicht, was ihnen zusteht und helfen würde. Die Gründe:
- soziale Scham, Angst vor Stigmatisierung
- Uninformiertheit
- bürokratische Hürden
- willkürlicher und bürger:innenunfreundlicher Vollzug
Quelle: Falling through the social safety net. Analysing non-take-up of minimum income benefit and monetary social assistance in Austria“, Michael Fuchs, Katarina Hollan, Katrin Gasior, Tamara Premrov, Anette Scoppetta, Wien 2019
Was macht eine gute Mindestsicherung aus?
Es genügt nicht, über die Mindestsicherung allein zu sprechen – die Vermeidung von Armut ist eine zentrale Aufgabe. Die Mindestsicherung kann in Zukunft nicht der „Staubsauger“ für alle strukturellen Probleme sein, die in der Mitte der Gesellschaft angelegt sind: Arbeitslosigkeit, Pflegenotstand, prekäre Jobs, mangelnde soziale Aufstiegschancen im Bildungssystem.
Es ist notwendig, dort etwas zu tun, wo Armut gemacht wird:
- bei fehlenden Arbeitsplätzen
- bei steigenden Wohnkosten in den Städten
- bei physischen und psychischen Beeinträchtigungen
- bei prekären und nichtexistenzsichernden Jobs
Ziel muss es sein, Existenz und Chancen zu sichern, nicht Leute weiter in den Abgrund zu treiben.
Österreich hat ein Versicherungsprinzip, das all jene unterstützt, die Beiträge leisten. Und Österreich hat ein Fürsorgeprinzip, das jenen hilft, die zu alt, zu krank oder zu jung sind, um selbst für ihr Auskommen zu sorgen.
Die Leistungen für Mindestsicherung machen nur 0,9 Prozent der Gesamtsozialausgaben aus.
Es macht uns alle stark, wenn wir anderen aufhelfen und niemandem ein Bein stellen. Zusammenhalt heißt auch, niemanden als Almosenempfänger:in zu sehen, sondern alle als Menschen mit gleicher Würde und sozialen Rechten. Nur das schafft Sicherheit.