Wahlauseinandersetzungen fordern Kirchen und ihre Hilfsorganisationen sowie alle Christinnen und Christen heraus, ein begründetes Urteil für ihre Wahlentscheidungen zu bilden. Was sind christliche Grundsätze, auf Basis derer Aussagen und Vorschläge politischer Parteien eingeordnet und beurteilt werden können?

In Österreich wird heuer gewählt. Das nehmen wir zum Anlass, um aus evangelischer Perspektive christliche Grundhaltungen zu beschreiben. Denn hinter politischen Debatten, Programmen und Maßnahmen stehen immer Werte und Haltungen. Sie mit christlichen Haltungen und Werten abzugleichen, kann beim Treffen einer Wahlentscheidung helfen.

Wahl- oder Nichtwahlempfehlungen sprechen die Diakonie Österreich und die Evangelische Kirche A. und H.B. in Österreich nicht aus. Sie rufen jedoch dazu auf, wählen zu gehen!

Wenn sich die Diakonie als Hilfs- und Sozialorganisation der evangelischen Kirchen zu gesellschafts- und sozialpolitischen Themen äußert, kommt immer wieder die Frage auf: Wie politisch sind eigentlich Diakonie und Kirche, wie politisch sollen und dürfen sie sein?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst überlegen: Was heißt eigentlich Politik? Das Wort Politik kommt aus dem Altgriechischen – von politiká, die Polis betreffend: Es geht um das Zusammenleben in der Polis, im Stadtstaat im antiken Griechenland. Allgemeiner können wir sagen: Bei Politik geht es um alle Tätigkeiten, Regelungen, Verfahren und Fragestellungen, die das Gemeinwesen betreffen. Es geht um die res publica (so der lateinische Begriff, von dem sich das Wort Republik ableitet), um die gemeinsame Sache. Politisch heißt, sich für die res publica, die öffentliche Sache, das Gemeinwesen interessieren und mitgestalten.

Wenn wir fragen, wie politisch die Diakonie oder auch die evangelischen Kirchen sind, geht es nicht um wie sehr – nach dem Motto auf einer Skala von 1-10: 1 ist nicht und 10 ist absolut politisch. Sondern: Wie meint auf welche Art und Weise. Man kann sagen: Kirche und Diakonie sind so politisch wie das Evangelium. Das Evangelium ist Richtschnur für Haltungen, mit denen Christen und Christinnen an politische Fragen des Zusammenlebens herangehen.

Die Frage, wie politisch Diakonie und Kirche(n) sein sollen oder dürfen, kommt auch daher, dass Politik oft mit Parteipolitik gleichgesetzt wird. Und sie wird gestellt vor dem Hintergrund einer langen Geschichte. Dazu gehören die Verschränkung von Thron und Altar bis zum Ende der Monarchie 1918, der austrofaschistische „Ständestaat“, der sich 1934 eine Verfassung gab „im Namen Gottes“, und vor allem die Kollaboration der Kirchen im Nationalsozialismus, wovon die evangelische Kirche besonders betroffen war.

Vor diesem Hintergrund wahren die Diakonie und die evangelischen Kirchen in Österreich Äquidistanz zu politischen Parteien. Sie äußern sich nicht parteipolitisch und geben keine Empfehlungen für oder gegen bestimmte politische Parteien ab. Amtsträger:innen der evangelischen Kirche A. und H.B. in Österreich, egal ob hauptamtlich oder ehrenamtlich, können (anders als in Deutschland) auch keine politischen Ämter ausüben. Sollten sie das wollen, müssen sie ihre kirchlichen politischen Ämter ruhend stellen oder zurücklegen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass Diakonie und evangelische Kirchen politischen Parteien ablehnend oder skeptisch gegenüber stehen. Im Gegenteil. Politischen Parteien kommt eine zentrale Rolle in der Demokratie zu. Diakonie und evangelische Kirchen haben Respekt vor der Bedeutung von politischen Parteien und der Arbeit von Politiker:innen. Diesen Respekt fordern sie auch im öffentlichen Diskurs ein.

Es passt nicht zu einer christlichen Grundhaltung, wenn eine politische Partei respektlos über den politischen Gegner spricht oder ihn verunglimpft, oder wenn eine politische Partei Politiker:innen anderer Parteien persönlich angreift und dabei untergriffig wird oder Falschaussagen über sie verbreitet.

„Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“, heißt es gleich am Anfang der Bibel (1 Mose 1,27). Der Mensch ist Ebenbild Gottes. Darin liegt seine Würde begründet – die Würde jedes einzelnen und aller Menschen. Die Menschenwürde kommt dem Menschen zu, weil er Mensch ist. Sie ist nicht von Eigenschaften, Talenten oder Leistungen abhängig. Niemand hat mehr Würde, niemand hat weniger Würde. Alle Menschen sind Ebenbilder Gottes und als solche gleichermaßen mit Würde ausgestattet: Arme und Reiche, Menschen mit und ohne Behinderungen, Menschen jedweden Alters und Geschlechts, jedweder Nationalität, Hautfarbe, Religion und sexueller Orientierung. Es ist eine fundamentale Gleichheit, die hier zum Ausdruck kommt.

Die Würde des Menschen ist unantastbar und unverfügbar. Sie muss geachtet und geschützt werden. Der Schutz und die Achtung der Menschenwürde aller Menschen ist eine der vornehmsten Aufgaben von Staat und Politik.

Die unantastbare Würde des Menschen ist Ausgangspunkt und Zielpunkt des christlichen Menschenbildes. Es ist mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar, wenn die gleiche Würde aller Menschen geleugnet oder relativiert wird. Dies ist der Fall bei Ideologien, die „das Volk“ vor das gemeinsame Menschsein stellen. Sie behaupten, dass sich Völker ihrem Wesen nach unterscheiden und sich nicht „mischen“ dürfen. Das „Volk“ ist für diese Ideologien eine identitäre Monokultur, eine Abstammungs- und letztlich eine Blutsgemeinschaft. Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, religiöser Zugehörigkeit und kultureller Prägung wird prinzipiell abgelehnt, die plurale Demokratie durch einen völkischer Nationalismus ersetzt. Wer dem „Volk“ nicht angehört, soll weniger Rechte haben.

Aus evangelischer Perspektive verlangt die gleiche Menschenwürde aller Menschen, dass politische Programme und Debattenbeiträge vom verbindenden gemeinsamen Menschsein ausgehen und das gute Zusammenleben in der Menschheitsfamilie sowie das Recht, Rechte zu haben (Hannah Arendt), befördern.

Damit die Achtung der Menschenwürde, die für Christ:innen in der Gottebenbildlichkeit gründet, nicht abstrakt bleibt, müssen alle Menschen die gleichen Rechte haben. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, sagt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Artikel 1. Die Menschenrechte buchstabieren die Menschenwürde aus. Sie sagen, was garantiert sein muss, damit die Menschenwürde geachtet wird. Wo die Menschenrechte in Frage gestellt oder verletzt werden, ist es Aufgabe der Kirchen und ihrer Diakonie, sie zu verteidigen.

Die Menschenrechte sind die Basis unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie sind geboren aus den Schrecken des Nationalsozialismus. Im Nationalsozialismus wurden bestimmte Menschen aufgrund bestimmter Merkmale rechtlos gemacht. Juden und Jüdinnen, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, als „asozial“ Diffamierte, so genannte „Volksfremde“, aber auch politisch Andersdenkende wurden als „Schädlinge“ bezeichnet, verfolgt und ermordet. Diese Erfahrungen führten dazu, dass nach dem Ende der Naziherrschaft die Menschenrechte international kodifiziert wurden. Die Vereinten Nationen haben die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. In Europa wurden die Europäische Menschenrechtskonvention und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etabliert. Sie stellen sicher, dass jeder Mensch gleiche Rechte hat und diese auch dann genießen kann, wenn sie ihm in seinem Heimatstaat verweigert werden.

Wo beginnen die Menschenrechte? „An den kleinen Plätzen, nahe dem eigenen Heim. So nah und so klein, dass diese Plätze auf keiner Landkarte der Welt gefunden werden können“, antwortet Eleonore Roosevelt, die vor 75 Jahren federführend an der Allgemeinen Erklärung mitarbeitete, auf diese Frage. „Und doch sind diese Plätze die Welt des Einzelnen: Die Nachbarschaft, in der er lebt, die Schule oder die Universität, die er besucht, die Fabrik, der Bauernhof oder das Büro, in dem er arbeitet. Das sind die Plätze, wo jeder Mann, jede Frau und jedes Kind gleiche Rechte, gleiche Chancen und gleiche Würde ohne Diskriminierung sucht. Solange diese Rechte dort keine Geltung haben, sind sie auch woanders nicht von Bedeutung.“

„Alle Menschenrechte sind allgemein gültig, unteilbar, bedingen einander und bilden einen Sinnzusammenhang“, formuliert die Abschlusserklärung der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien. Die Menschenrechte sind unveräußerlich, d.h. sie können und dürfen nicht aufgegeben werden, auch nicht freiwillig. Die Menschenreche sind unteilbar, d.h. sie gelten in ihrer Gesamtheit; wird ein Menschenrecht nicht gewährt, stehen alle Menschenrechte infrage. Die Menschenrechte sind universal, d.h. sie gelten für alle Menschen und für jeden einzelnen Menschen. Die wenigsten wollen die Menschenrechte abschaffen, manche wollen aber, dass sie nicht für alle gleich gelten. Das bedeutet de facto ihre Abschaffung.

Aus evangelischer Sicht wird das Wertefundament, auf dem unser Europa und unser Österreich ebenso wie unsereDemokratie gebaut sind, angegriffen, wenn ein Menschenrecht infrage gestellt wird oder wenn die volle Gültigkeit der unteilbaren Menschenrechte für eine bestimmte Gruppe von Menschen infrage gestellt wird.

Weil jeder Menschen wertvoll ist und alle Menschen gleich viel wert sind, ist es wichtig zu sehen und aufzustehen, wenn die Würde von Menschen verletzt wird und ihnen Rechte abgesprochen werden. Die Menschenrechte nehmen vor allem besonders benachteiligte oder verletzliche Gruppen in den Blick. 

In der so genannten Weltgerichtsrede (Mt 25,31-46) sagt Christus: „Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. … Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern), das habt ihr mir getan. … Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“

Unter „den Geringsten“ verstehen wir heute besonders verletzliche und benachteiligte Menschen. Jesus nennt sie Brüder und Schwestern und macht sich zu einem von ihnen. Daher gilt ihnen auch die besondere Aufmerksamkeit und Solidarität von Christ:innen. In ihnen begegnet uns Christus. Diakonie und evangelische Kirchen sind nicht politisch, indem sie Parteipolitik treiben, sondern indem sie Partei ergreifen für die geringsten Brüder und Schwestern. Besonders wenn Minderheiten und Menschen am Rand der Gesellschaft übersehen, gedemütigt und als Sündenböcke für allgemeine Probleme in der Gesellschaft missbraucht werden, müssen Christen und Christinnen eine Option treffen. „Wenn die Kirche den Staat ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht ausüben sieht, kommt sie in die Lage, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“ (Dietrich Bonhoeffer).

Aus evangelischer Sicht sind politische Programme daraufhin zu befragen: Wie kommen „die Geringsten“ – Menschen in Österreich und anderswo auf der Welt, die von Armut betroffen sind, Menschen auf der Flucht, Menschen mit Behinderungen, mit Pflegebedarf, Kranke, Menschen, die kein soziales Netz haben – vor in politischen Programmen? Werden sie gehört – oder werden sie diskriminiert, verachtet, ausgegrenzt, vergessen? Wie wird über sie gesprochen? Werden ihre Interessen berücksichtigt? Welche Maßnahmen gibt es zu ihrer Unterstützung?

Die Bibel erzählt viele Geschichten über Flucht. Sie sind literarisch verdichtete Grunderfahrungen. Diese Erfahrungen schlagen sich nieder in Israels Gesetzgebung: „Einen Fremdling sollst du nicht bedrücken und bedrängen; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.“ (2 Mose 22,20), heißt es in der ältesten alttestamentlichen Rechtssammlung. Spätere alttestamentliche Rechtstexte formulieren die Gleichberechtigung von Fremden und Einheimischen: „Es soll ein und dasselbe Recht unter euch sein für den Fremdling wie für den Einheimischen; ich bin der HERR, euer Gott.“ (3 Mose 24,22) Es ist Gott selbst, der hier spricht. Damit wird der Schutz der Fremden unter göttliche Autorität gestellt und hat dasselbe Gewicht wie religiöse und kultische Normen: Er gehört zur Gottesbeziehung selbst.

In der Bibel gilt die Nächstenliebe auch den Fremden. Jesus selbst muss als Baby mit seinen Eltern vor der Verfolgung durch Herodes nach Ägypten fliehen. In Mt 25 sagt Christus: „Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.“

Auch wenn die konkrete Lage und die Herausforderungen in Sachen Aufnahme von Fremden heute, in einer globalisierten Welt, völlig andere sind als im alten Israel und zur Zeit Jesu, fordert das große Gewicht, das die Bibel dem Thema Flucht und dem Schutz von Fremden gibt, Christ:innen auf zu besonderer Sensibilität und Verantwortung gegenüber Menschen, die ihre Heimat verlassen (müssen).

Politisch ist wichtig, zwischen Flucht und Migration zu unterscheiden. Bei Verfolgung Asyl zu suchen, ist einMenschenrecht und als solches unveräußerlich. D.h. jede:r Mensch muss die reale Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen, der in einem fairen Verfahren geprüft wird. Über Asyl als Grundrecht kann nicht abgestimmt werden. Denn Grund- und Menschenrechte Mehrheitsentscheidungen anheim zu stellen, würde sie ihres Sinns berauben. Über Zuwanderung und ihre Bedingungen hingegen entscheiden politische Mehrheiten, das gehört zur demokratischen Willensbildung. Wobei dabei die Menschenwürde geachtet werden muss und gilt: „Einen Fremdling sollst du nicht bedrücken.“ 

Aus ihrer praktischen Arbeit in der Begleitung von Geflüchteten und Migrant:innen weiß die Diakonie, dass gelingende Integration Unterstützung braucht – so wie jeder Mensch, wenn er wo neu ist, Anschluss braucht und nicht allein gelassen werden will. Die Diakonie beobachtet, dass Geflüchtete ebenso wie Migrant:innen große Hürden auf dem Weg der Integration überwinden müssen. Es ist Aufgabe der Politik, Integration nicht nur zu fordern, sondern konkrete Maßnahmen (Deutschkurse, Integrationswohnungen, Zugang zum Arbeitsmarkt, Integrations-Coaches, Kindergartenplätze, Integrationshilfen in der Schule etc.) zu setzen, um zu ermöglichen, dass sich Menschen integrieren und ihren Beitrag leisten können.

Die Bewältigung sozialer Probleme war schon in biblischen Zeiten Thema. Eine besonders gefährdete Gruppe waren neben Fremden auch Witwen und Waisen. Ihr Schutz ist religiöse Pflicht. In den jungen christlichen Gemeinden war der Ort der Fürsorge für die Bedürftigen der Abendmahlstisch. Arme und Reiche nahmen gemeinsam Platz. Es wurde gemeinschaftlich gegessen – bis alle satt waren. In den folgenden Jahrhunderten waren Almosen eine wichtige Art und Weise, Menschen in Armut zu unterstützen. In der Reformationszeit wurde der „gemeine Kasten“ eingeführt, eine Art Sozialkassa zur Versorgung Armer und Kranker, aber auch zur Finanzierung von Schulen für alle. Im 19. Jahrhundert brachte die industrielle Revolution neue Nöte, auf die evangelischerseits durch die Gründung der diakonischen Hilfsorganisationen reagiert wurde. 

Staatlicherseits wurden Ende der 1880er Jahre die ersten Sozialversicherungssysteme aufgebaut. Sie sollten soziale Absicherung bei Krankheit und Alter bieten, später kam Arbeitslosigkeit als soziales Risiko dazu. In den 1980er und 90er Jahren kamen neue Risken in den Blick, auf die mit sozialstaatlichen Instrumenten geantwortet wurde: Pflege, Behinderungen und Kinderversorgung.

Soziale Sicherheit ist die eine Aufgabe des Sozialstaates. Die andere ist, dafür Sorge zu tragen, dass alle Menschen Zugang zu materiellen und immateriellen Gütern wie Nahrungsmittel, Wohnraum, Bildung, Gesundheit, Arbeit, etc. haben und dass diese fair verteilt sind. „Alle sollen an den Chancen und Möglichkeiten, die unsere Gesellschaft bietet, teilhaben können. … Eine gerechte Verteilung der Güter und die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen erlauben es dem:der Einzelnen, seine:ihre Freiheit verantwortlich leben zu können. Ein Mangel an Ressourcen, seien es materielle Ressourcen oder der Zugang zu Bildung oder Partizipationsprozessen, schließt von der Teilhabe aus und schränkt Entfaltungschancen ein.“ (Generalsynode der Evangelischen Kirche A. und H.B. in Österreich/Diakonischer Rat der Diakonie Österreich, Diakonie – Standortbestimmung und Herausforderungen, 2023)

Diese Ressourcen sind gerade in Zeiten der Teuerung, hoher Wohnkosten, fehlender Therapieplätze oder Lücken in der Pflegebetreuung wichtig. Für die Diakonie bedeutet das, im Sozialstaat darauf zu achten, „allen Menschen ein Leben in Fülle zu ermöglichen, indem wir sie dabei begleiten, ihre Gaben wachsen zu lassen, und uns für Rahmenbedingungen stark machen, diese Gaben auch einsetzen zu können“.

Eine Haltung, die alles zum eigenen Verdienst erklärt, muss aus evangelischer Sicht kritisch hinterfragt werden. Diese Haltung begegnet uns, wenn es heißt: Menschen sollen sich nicht auf den Sozialstaat verlassen, sondern selbst Verantwortung übernehmen. Oder: Leistung muss sich lohnen. Biblisch betrachtet, ist der Mensch zuerst Empfangender, bevor er Gebender oder Leistender ist. „Was hast du, was du nicht empfangen hast?“ (1 Kor 4,7b) fragt der Apostel Paulus. Alles, was wir haben, ist letztlich Geschenk Gottes.

Die Liebe Gottes können wir uns nicht verdienen und müssen das auch nicht – diese Einsicht gehört zu den Kernstücken evangelischer Theologie. Gottes freie Gnade befreit uns zum verantwortlichen Handeln. Verantwortung hat gerade für evangelische Christ:innen einen hohen Stellenwert. Doch auf die Reihenfolge kommt es an. Nicht: Weil ich gute Werke tue, liebt mich Gott. Sondern: Gott liebt mich, daher kann ich gute Werke tun. „Gott beschenkt uns, damit wir im Rahmen unserer Möglichkeiten selber Schenkende werden können“, so formuliert es der evangelische Theologe Miroslav Volf. Analog können wir sagen: Nicht Menschen leisten etwas, und erweisen sich so der Hilfe und Unterstützung würdig. Sondern: Menschen brauchen Gegenseitigkeit, Unterstützung und soziale Sicherheit, dann können sie Verantwortung übernehmen und etwas beitragen.

Ja, Menschen sollen und wollen etwas leisten. Aber Leistung eignet sich nicht als Bezugspunkt für Gerechtigkeit. Ganz praktisch gefragt: Was ist eigentlich eine Leistung? Wie bewerten wir Leistung? Worauf bezieht sie sich? Auf die Anstrengung, die investiert wird? Oder auf das Ergebnis, den Erfolg? Ist es gerecht, wenn die Leistung einer Alleinerzieherin, die morgens um 5:30 aufsteht, die Kinder versorgt und in Kindergarten und Schule bringt, den Vormittag über an einer Supermarktkasse arbeitet, die Kinder wieder abholt, betreut, beschäftigt, ins Bett bringt und dann noch Haushaltsarbeiten erledigt, weniger zählt als die Leistung eines Top-Managers, der morgens nach dem Frühstück vom Chauffeur ins Büro gefahren wird, am Schreib- oder Konferenztisch sitzt, während die Kinder nach der Schule Nachhilfe bekommen, die Putzfrau das Haus reinigt und die Hemden bügelt, und der abends noch beim Business-Dinner einen Deal unter Dach und Fach bringt?

Was brauchen Menschen, um etwas beitragen zu können? Die Frage führt uns zu den Grundbedürfnissen, die für alle Menschen gleich sind: Gesundheit, Bildung, Wohnen, Essen und Trinken, Arbeit, Freund:innen, Beziehungen. Eltern, die chronisch krank sind, tun sich schwer, ihre Kinder zu versorgen. Wer kein Dach über dem Kopf hat, tut sich schwer, eine Arbeit zu finden. Ebenso wer keine Chance hatte, Deutsch zu lernen. Kinder mit Behinderungen tun sich schwer zu lernen, wenn sie keinen selbstverständlichen Platz in der Schule bekommen.

Gerechtigkeit verlangt, Grundbedürfnisse sicherzustellen. In der Praxis ist das die Aufgabe der Politik als Sorge um die res publica, unsere gemeinsame Sache. Aus evangelischer Sicht ist es entscheidend, dass Politik mittels der Instrumente des Sozialstaats eine Ausgangssituation für alle Menschen in Österreich schafft, die es ihnen ermöglicht, Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen und etwas beizutragen.

Es kommt immer wieder vor, dass Politiker:innen von Nächstenliebe sprechen. Auch in Wahlkampfslogans wurde schon mit dem Begriff der Nächstenliebe gearbeitet. Nächstenliebe wurde dabei enggeführt auf „zuerst auf unsere Leut‘ schauen“ („Nächstenliebe kann nicht Fernstenliebe sein“) bzw. auf Österreicher:innen. („Liebe deinen Nächsten – für mich sind das Österreicher“). Das widerspricht dem christlichen Verständnis von Nächstenliebe diametral.

Den Wert der Nächstenliebe finden wir schon im Alten Testament. Er entstammt dem orientalischen Nachbarschaftsethos, wo Nächstenliebe gleichgestellten Nachbarn galt. Das Alte Testament verbindet die Nächstenliebe mit dem Ethos der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit war ebenfalls ein wichtiger Wert im Alten Orient und galt den Schwachen, Witwen und Waisen. In Israel wird das Barmherzigkeitsethos auf den Fremden ausgeweitet. Das heißt, das Alte Testament unterscheidet beim Gebot der Nächstenliebe nicht zwischen Innengruppe und Außengruppe, zwischen den eigenen Leuten und den anderen. Im Neuen Testament setzt sich das fort, die Nächstenliebe wird erweitert zur Feindesliebe. 

In der Nächstenliebe gipfelt und konzentriert sich das christliche Ethos. Auf die Frage, was das höchste Gebot sei, antwortet Jesus: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Mt 22, 37-40)

Dass Nächstenliebe nicht nur Personen gilt, zu denen man aufgrund der Herkunft oder Zugehörigkeit zu einem „Volk“ oder einer Religion besondere Nähe hat, zeigt Jesus nachdrücklich im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37): Wir sollen dem zum Nächsten werden, der unsere Hilfe braucht. Nächstenliebe ist keine Abstandsmessung, sondern eine Standortbestimmung.

Als Minderheit in Österreich und aufgrund ihrer leidvollen Geschichte haben Evangelische eine hohe Sensibilität für die Bedeutung der Demokratie und ihre Gefährdung.
Wovon genau sprechen wir, wenn wir von Demokratie sprechen? Demokratien sind Staaten, in denen politische Fragen in fairen öffentlichen Diskussionen und in genau geregelten Verfahren gelöst werden, in denen regelmäßig freie Wahlen stattfinden und Amtsträger:innen des Staates ihre Entscheidungen gegenüber den Bürger:innen verantworten. 
Wichtig dabei ist: Demokratie heißt nicht platt, die Mehrheit bestimmt. Demokratie sichert Freiheit und Gleichheit für alle. Darum gibt es Grenzen für das, was die Mehrheit in einer Demokratie beschließen darf. Und deshalb ist der Schutz von Minderheiten wesentlich für eine Demokratie. 

Dass der Karfreitag als Feiertag abgeschafft wurde mit der lapidaren Feststellung, dass sich für 96% nichts ändere, ist eine bleibende Wunde für Evangelische. Nicht weil sie das Privileg des freien Karfreitags für sich in Anspruch nehmen wollen, sondern weil der Karfreitag als Feiertag für Evangelische eine Anerkennung ihrer Diskriminierung als Minderheit war. Die Evangelische Kirche A. und H.B. in Österreich erwartet von einer künftigen Regierung die Einführung des Karfreitags als Feiertag für alle.

Wichtig ist in einer Demokratie weiters, dass die verschiedenen Institutionen sich gegenseitig kontrollieren: Die Verwaltung wird von der Regierung kontrolliert, und die Regierung wird vom Parlament kontrolliert. Verwaltung, Regierung und Parlament werden von den Gerichten kontrolliert und alle zusammen werden von unabhängigen Medien und der Öffentlichkeit beobachtet. Dieses der Demokratie zugrunde liegende Prinzip der gegenseitigen Kontrolle (checks) und des Machtgleichgewichts (balances) der Regierungsgewalten beugt Machtmissbrauch vor. In autoritären oder „illiberalen“ Staaten werden diese lebendigen Prinzipien angegriffen bzw. geschwächt.

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ heißt es im Brief an die Galater (Gal 5,1). Die Freiheit hat einen hohen Stellenwert für Evangelische. Sie gilt ihnen als Geschenk und freie Gnadengabe. In seiner berühmten Schrift „Von der Freiheit des Christenmenschen“ hält Martin Luther fest: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.“ Doch Freiheit ist nicht absolut. Gleich im nächsten Satz schreibt Luther: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Ein Christenmensch ist zur Freiheit befreit, aber auch zur Dienstbarkeit, sprich zur Nächstenliebe. Heute sagen Evangelische auch: Freiheit und Verantwortung füreinander gehören zusammen.

Dieser Grundgedanke ist auch für die Demokratie zentral: Freiheit – die Freiheit vor Verfolgung, seinen Glauben und seine Überzeugung frei wählen zu können, seine Meinung frei äußern zu können, sich versammeln und etwas fordern zu können – ist eine Grundlage der Demokratie. Ohne diese Grundfreiheiten kann Demokratie nicht funktionieren. Aber Freiheit bedeutet nicht, dass jeder Mensch tun und lassen kann, was sie oder er will. Freiheit kann nicht schrankenlos sein. Wer Freiheit nur für sich selbst in Anspruch nimmt, verwehrt anderen Freiheit. Meine Freiheit findet ihre Grenze in der Freiheit anderer. Deswegen wird in Demokratien die Freiheit auch eingeschränkt. In demokratischen Verfahren beschlossene Gesetze regeln die Freiheitseinschränkungen. Nur so kann jeder Mensch frei sein und wird Zusammenleben möglich. 

Die Erfahrung zeigt, dass es nicht ausreicht, die oben genannten Freiheitsrechte zu sichern. Um unser Leben frei leben zu können, brauchen wir auch ausreichende Optionen und Möglichkeiten, aus denen wir wählen können, und ein gewisses Maß an materieller Sicherheit. Wer hungert, wer kein Dach über dem Kopf hat, kann nur eingeschränkt oder gar nicht über sein Leben bestimmen. Menschen ohne ausreichenden Zugang zu Gütern wie Nahrung, Bildung, Gesundheit, Wohnraum, Arbeit etc. sind schlicht nicht frei.

Evangelischen war es in Österreich während der Zeit der Gegenreformation verboten, ihren Glauben zu leben. Wer evangelisch sein wollte, musste im Geheimen Gottesdienst feiern und die Bibel lesen – oder das Land verlassen bzw. wurde vertrieben. Das Toleranzpatent Josephs II. (1781) ermöglichte freie Religionsausübung, aber mit Einschränkungen. So durften Bethäuser nach außen hin nicht als Kirchen erkennbar sein, d.h. keinen Turm und keine Fenster zur Straße haben, und Evangelische durften keine Vereine gründen. Volle Gleichstellung brachte erst das Protestantenpatent von 1861. Nicht zuletzt aufgrund dieser Geschichte haben Evangelische eine hohe Sensibilität für Religionsfreiheit. 

Die Religionsfreiheit ist in Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbrieft: „Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des Einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben.“ 

Unter Religion wird also zunächst eine Überzeugung verstanden. Jede und jeder hat das Recht, seine – religiöse oder nichtreligiöse – Überzeugung frei zu wählen. Aus kirchlicher und theologischer Perspektive kann nur ein frei gewählter Glaube wirklich Glaube sein. Der Staat wiederum hat die Aufgabe, die freie Religionsausübung aller Bürger:innen zu schützen. Das kann der Staat nur, indem er alle Religionen und Weltanschauungen strikt gleich behandelt. Der demokratische Staat darf keine Religion diskriminieren oder privilegieren.

Die Religionsfreiheit ist nicht auf die persönliche Überzeugung beschränkt. Zur Religionsfreiheit gehört das Recht, seine Religion öffentlich und in Gemeinschaft zu leben. Das heißt, die Religionsfreiheit schützt auch das öffentliche Sichtbarwerden von Religionen. Dazu gehört zum Beispiel, Gottesdienste und Riten öffentlich zu feiern, dafür auch Kirchen, Tempel oder Moscheen bauen zu können oder religiösen Bekleidungsvorschriften zu folgen. Manche meinen: Religion ist Privatsache. Der Staat solle dafür sorgen, dass Religion in der Privatsphäre gelebt werden. Das widerspricht der (so genannten positiven) Religionsfreiheit. Aufgabe des Staates ist es, sich produktiv auf die Vielfalt der Überzeugungen einzustellen und dafür Sorge zu tragen, dass alle Überzeugungen an der öffentlichen Debatte teilhaben können.

Damit Mitglieder der verschiedenen Religionsgesellschaften mit ihren Überzeugungen an der öffentliche Debatte teilnehmen können, brauchen sie Wissen über die eigene Religion. Wer in der eigenen Tradition gut verwurzelt ist, wer weiß, dass es innerhalb einer Religion verschiedene Zugänge und Interpretationswege gibt, kann eine gefestigte religiöse Identität entwickeln und von dieser Basis aus in den Dialog gehen. Deswegen sprechen sich Evangelische klar und deutlich für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen aus, der auf fundierter Ausbildung, Vernunft und Reflexion gegründet ist.

Christ:innen verstehen die Welt als Schöpfung Gottes und sich selbst als Teil der Schöpfung. Sie sehen sich in die Verantwortung gerufen, die Schöpfung zu bebauen und zu bewahren. (Gen 2,15) Heute, angesichts der dramatischen Klimaveränderungen, verlangt dies entschiedenen Einsatz für den Klimaschutz. 

Die Klimakrise mahnt zur Nächstenliebe, zur Empathie für alle Geschöpfe, die unter den Folgen der Krise leiden, und zur Gerechtigkeit. Dabei muss gesehen werden: Unsere Lebensweise trägt wesentlich zur Klimakrise bei. Doch nicht alle sind im gleichen Maße für die Klimakrise verantwortlich. Reiche belasten die Umwelt durch ungleich höheren Treibhausgasausstoß und Ressourcenverbrauch deutlich mehr als Arme. Gleichzeitig treffen die Folgen der Klimakrise Arme härter als Reiche, und sie haben weniger Mittel, um die Folgen abzufedern. Das gilt sowohl global, im Verhältnis zwischen reichen Industrieländern und Ländern des globalen Südens, als auch in Österreich. Bewahrung der Schöpfung und Klimagerechtigkeit verlangen auf globaler wie nationaler Ebene eine gerechte Verteilung der Ressourcen unter Beachtung ihrer Begrenzung sowie eine gerechte Teilung der Verantwortung für Maßnahmen zum Klimaschutz.

In ihrem Grundsatzpapier „Schöpfungsglaube in der Klimakrise“ (2022) setzt sich die Generalsynode der Evangelischen Kirche A. u. H.B. in Österreich u.a. für konkrete Ziele ein, die der politischen Umsetzung bedürfen: rechtlich verbindliche Grundlagen für den Klimaschutz in Österreich, die am 1,5-Grad-Ziel und der Klimaneutralität 2040 festhalten; Überprüfung von Maßnahmen zur Erreichung von Klimaneutralität auf ihre sozialen Wirkungen bzw. ihre Verteilungswirkung und Ausgleichen der negativen Auswirkungen auf Menschen mit wenig Einkommen und Vermögen mit sozialstaatlichen Mitteln; Streichung der kontraproduktiven Förderungen für Kohle, Öl und Gas und Maßnahmen für einen möglichst raschen Umstieg auf erneuerbare Energien; Ausrichtung von Agrarsubventionen am Klimaschutz; Kostenwahrheit beim mit fossilen Rohstoffen betriebenen Verkehr und  Ausbau des öffentlichen Verkehrs.

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Sie möchten alle Themen gesammelt durchlesen, auflegen oder weiterleiten? Das Argumentarium widmet sich allen oben besprochenen Themen:

Argumentarium Nr. 9: Demokratie (2024)

In diesem Argumentarium werden aus evangelischer Perspektive christliche Grundsätze beschrieben, auf Basis derer Aussagen und Vorschläge politischer Parteien eingeordnet und beurteilt werden können.