Öffnen wir die Pflegeheime!

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04. August 2024
Pflegeheime als wichtiger Teil gelebter Nachbarschaft

Pflegeheime abschaffen?

Auf einer Demenzveranstaltung in Wien forderte kürzlich jemand die generelle Abschaffung der Pflegeheime. Der Applaus war riesig. Auch in anderen Beiträgen der Tagung wurde das Pflegeheim als Ort der Betreuung beinahe dämonisiert: Dort gehe es den Menschen schlecht. Dort werde man generell „ruhiggestellt.“ Ich bat um Differenzierung, wurde aber schief angesehen, wie konnte ich bloß das Pflegeheim verteidigen?

In diesem Moment spürte ich, wie sich wohl Menschen fühlen, die sagen, dass sie in einem Pflegeheim arbeiten oder dass sie ihre Angehörigen dort betreuen lassen. Das Negativ-Image überträgt sich von der Institution auf die Person, lässt einen beschämt und allein zurück.

Negative Schlagzeilen…

Gegen die große mediale Macht von Negativ-Geschichten rund um das Pflegeheim lässt sich nicht auf der gleichen Ebene ankommen. „Only bad news are good news”, und dass Menschen in einem Heim wohlfühlen, sich ihr Zustand verbessert, sie von neuen Kontakten profitieren, schafft es kaum je  in die Medien. Auch die Politik hilft uns nicht. Sie addiert zum berechtigten Wunsch der Menschen, lange zuhause zu leben den finanziellen Vorteil der mobilen Versorgung und propagiert das Pflegeheim als allerletzte Option. Das drückt sich etwa im Slogan der Gesundheitsreform so aus: „digital vor mobil vor stationär“. Eine klare Hierarchie, keine Wahl.

… und die Realität

Nun leben aber knapp 100.000 Menschen in Österreich in der so genannten „stationären Langzeitpflege.“ Die allermeisten haben einen sehr hohen Pflegebedarf, sind in ihrer Mobilität stark eingeschränkt, haben mehrere Krankheiten und ein großer Anteil lebt mit Demenz. (Wir gehen von 75-80% aus). Mit der Betreuung zuhause hat es für sie alle nicht mehr geklappt, warum auch immer. Wir sollten sie nicht dafür bestrafen, indem wir ihren Lebensort pauschal abwerten. Im Gegenteil: Helfen können wir ihnen am besten, wenn wir ihnen einen Platz in der Mitte der Gesellschaft zugestehen.

Die Vision: Pflegeheime als Teil gelingender Sozialräume

Mario Golser, Demenz-Experte beim Diakoniewerk, lebt für diese Vision. Dass nämlich Pflegheime keine abgeschotteten Orte am Rand der Gemeinden sein dürfen, in denen sich viel Pflege, aber wenig Leben abspielt. Im Gegenteil. Er findet, dass ein Sozialraum erst dann komplett ist, wenn dort auch Menschen teilhaben können, die in einem Pflegeheim zuhause sind. Ist das naiv? Will das jemand? Geht das überhaupt?

„Seit wir uns öffnen, haben wir eine ganz andere Stimmung im Haus,“ erzählt mir der Leiter eines Pflegewohnhauses. „Daher habe ich jetzt drei Mitarbeiterinnen mit Kontakten in die Gemeinde hinein beauftragt.“ Wer sich auf die Suche nach positiven Geschichten des Miteinander macht, der hört viel Erfreuliches: von Kindergruppen, die völlig unbeschwert mit alten Menschen eine Olympiade machen. Von Teenagern, die tief in die Lebensgeschichten der Bewohner:innen eintauchen. Von Firmengruppen, die bei Festen helfen und völlig erstaunt sind, wie fröhlich es zugeht. Von Freiwilligen, die für sich im Vorlesen, im Singen, im Spazieren eine sinnvolle Aufgabe finden. Von Angehörigen, die sich um den Garten kümmern und öfter nun kommen. Von Nachbar:innen, die Tiere im Garten mitversorgen und Teil der „Familie“ werden. Von Musikgruppen, die gerne Feste umrahmen. Die Liste wird schnell lang und macht Mut.

Teilhabe ist mehr als Unterhaltung

Die hier beschriebene Öffnung braucht es nicht (nur), damit die Menschen im Pflegeheim besser unterhalten sind. Es geht um viel mehr. Es geht darum, dass ihr Lebensort gesehen wird. Dass wir mit ihnen sind und dadurch sie mitten unter uns. Es geht darum, dass wir schaurige Vorstellungen vom Leben mit hohem Pflegebedarf durch echtes Erleben ersetzen. Das ist vielleicht nicht immer erfreulich, da ist auch Schweres dabei. Aber was Pflege als Beruf leistet und warum das erfüllend sein kann, das lässt sich so wesentlich besser vermitteln als auf Plakatwänden.

Wer in Kontakt mit pflegebedürftigen Menschen kommt, der erlebt auch ihre Kraft, ihre Freude, ihre Art, das Leben mit Einschränkungen zu bewältigen. Für diese Erweiterung der sozialen Kompetenz kann man Schulfächer einführen oder Seminare besuchen. Man kann es aber auch so machen: Pflegheime nicht an den Stadtrand bauen, Menschen anstellen, die Kontakte ermöglichen und begleiten und selbst offen sein für die Tatsache, dass im Pflegeheim nicht bloß Pflege und schon gar nicht permanente Krise stattfindet, sondern Leben und Begegnung.

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