Wie wir an der Expertise geflüchteter Menschen wachsen
- Story
Shokat Walizadeh im Interview mit Julia Hager.
Als Flüchtling und ehemaliger Klient hast du den Weg von der grünen Karte bis zur Staatsbürgerschaft selbst erlebt. Wie haben deine Biografie und dein beruflicher Werdegang dein Verständnis von Partizipation geprägt?
Ich bin 2008 nach Österreich gekommen. Aber erst als ich meinen ersten intensiven Deutschkurs belegen konnte, hatte ich das Gefühl, dass mein Leben hier losging. Sprache war für mich der Türöffner für Teilhabe und Mitgestaltung. Ich habe in Österreich eine Lehre zum Zahntechniker absolviert, doch meine Berufung fand ich später im Sozialbereich. Was ich als Klient, als Sozialarbeiter und als Projektmitarbeiter erlebt habe, bestärkt mich in meiner Überzeugung, dass Partizipation von geflüchteten Menschen eine neue Arbeitsqualität für alle Seiten schafft.
Klient:innen sollen fortan also noch stärker in die Entwicklung der Angebote und Strukturen einbezogen werden. Gibt es Beispiele, wie Partizipation im Diakonie Flüchtlingsdienst bereits jetzt gelebt wird?
Ja natürlich; auch ich habe die partizipative Qualität der Diakonie als Klient geschätzt. Im Integrationsbereich tauscht sich beispielsweise das Integrations- und Bildungszentrum St. Pölten in Fokusgruppen mit Klient:innen aus, um mehr über ihre Erwartungen zu erfahren. Infolgedessen sind Klient:innen auch eingeladen, neue Projektideen mitzugestalten. In anderen Einrichtungen werden die Klient:innen in die Entwicklung der Gestaltung von Angeboten beispielsweise über Stockwerkversammlungen und Feedback-Kästen eingebunden. An einer systematischen Verankerung von Nutzer:innenteilhabe in der gesamten Organisation wird gegenwärtig aber noch gearbeitet.
Mit dem Schaffen einer eigenen Fachstelle wird dem Thema Klient:innen-Partizipation im Diakonie Flüchtlingsdienst ein hoher Stellenwert eingeräumt. Welche konkreten Ziele hast du dir für die Entwicklung dieser Stelle gesetzt?
Durch die Fachstelle sollen Strukturen für die Teilhabe von Klient:innen in unseren Einrichtungen geschaffen werden und unsere Klient:innen ermutigt werden, sich mit ihrer Expertise an der Gestaltung und Entwicklung unserer Angebote und unserer Organisation zu beteiligen.
Das zentrale Ziel dabei ist, unsere Angebote und Leistungen noch besser an die Bedürfnisse und Wünsche unserer Klient:innen anzupassen. Es ist uns aber auch sehr wichtig, in der Lobbyingarbeit nicht über unsere Klient:innen zu sprechen, sondern sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Damit werden wir als Expert:innenorganisation in der Öffentlichkeit glaubwürdiger und in der täglichen Arbeit treffsicherer.
Konkret bin ich dabei, mit unseren unterschiedlichen Einrichtungen herauszuarbeiten, wie Klient:innen und ihre Erfahrungen so in die Abläufe und Prozesse eingebunden werden können, dass beide Seiten profitieren – die Klient:innen genauso wie unsere Organisation. Wo Partizipation bereits gelebt wird, will ich sie sichtbar machen. Wo es Potential gibt, werde ich Veränderungen vorschlagen.
Ist Partizipation eine Vorstufe von Selbstvertretung?
Genau, um Selbstvertretung von Klient:innen zu ermöglichen, braucht es zuallererst ihre Mitgestaltung. In meiner Funktion will ich Klient:innen unterstützen, eine Selbstvertretungsstruktur innerhalb des Diakonie Flüchtlingsdienstes aufzubauen. Mein Vorschlag wäre, dass in jeder Einrichtung ein:e Klient:innen-Sprecher:in gewählt wird. Diese Sprecher:innen möchte ich bei einer großen Klient:innen-Konferenz zusammenbringen. Daraus soll ein dauerhafter Klient:innen-Beirat erwachsen, der sich fortbildet und Entscheidungskompetenz aneignet. Dieser Beirat soll schließlich in engem Austausch mit dem Geschäftsführungsteam arbeiten.
Wo liegen die Grenzen der Partizipation?
Klient:innen-Partizipation braucht einen Rahmen. Wenn Klient:innen etwa Wünsche formulieren, die nicht im Aufgabenspektrum der jeweiligen Einrichtung liegen, dann muss das klar und offen gesagt werden. Nur so kann man vermeiden, dass Klient:innen enttäuscht werden.
Was ist die Ombudsstelle für Klient:innen?
Die Ombudsstelle befindet sich noch in der Planungsphase. Die Idee ist, dass Klient:innen in mir einen zentralen Ansprechpartner für ihre Anliegen und Beschwerden finden. Es ist mir wichtig, dass das Angebot einfach zu nützen ist und Klient:innen in mir ein verlässliches Gegenüber haben, das ihre Beschwerden und Wünsche ernst nimmt.
Was würdest du Menschen raten, die im Fluchtbereich arbeiten wollen?
Man sollte nicht unterschätzen, dass viele Klient:innen schon einige Jahre in Österreich leben. Es ist nur verständlich, dass sie ein Gespräch auf Augenhöhe wollen und mitentscheiden möchten. Natürlich braucht Partizipation Ressourcen, Geduld und die Bereitschaft für Veränderung, doch auf lange Sicht bringt sie für eine Organisation eine neue Qualität der Arbeit. Von Partizipation profitieren am Ende Klient:innen und Organisationen!
Shokat Walizadeh ist 1990 in Afghanistan geboren. Ende 2007 musste er Afghanistan verlassen. In Österreich hat er die Lehre zum Zahntechniker absolviert und bei landesweiten Lehrlingsbewerben 1. und 2. Plätze belegt. Seine Erfahrung in der Arbeit mit geflüchteten Menschen reicht von Betreuung und Beratung bis zu Konzeption und Organisation von unterschiedlichen Angeboten. Er ist Mitbegründer des afghanischen Sport- und Kulturvereins „NEUER START“. Als Workshop-Koordinator und Vortragender spricht er über die Lebenswelten von afghanischen Geflüchteten in Österreich und interkulturelle Genderkompetenz. Seit 2021 führt Shokat Walizadeh im Diakonie Flüchtlingsdienst die Fachstelle für Klient:innen-Partizipation und entwickelt im Zuge dessen die Ombudsstelle für Klient:innen.