Wenn die Welt fremd wird
- Kommentar
Was läuft gut, was schlecht an Ihrem Wohnort? Was würden Sie gerne ändern? Mit diesen Fragen im Gepäck haben WissenschaftlerInnen an 5.000 Türen geklopft. Die Haustürgespräche fanden in jeweils drei Regionen in Ost- und Westdeutschland sowie in Nord- und Südfrankreich statt.
Die Leute beantworteten allgemeine Fragen zu ihrer persönlichen Lage sowie zur Sicht auf ihr Lebensumfeld und das Land. Alle Befragten haben sehr offenherzig und lange erzählt.
Der Redebedarf war groß
Die Gespräche dauerten im Durchschnitt über 25 Minuten. Der Redebedarf war groß; die Erfahrung gut, wahrgenommen zu werden. Das, was alle beschäftigte, das, was alle zur Sprache brachten, das, was in jedem Gespräch sich in der Tiefe äußerte, war:
Wir sind hier verlassen worden. Ich bin verlassen. Vergessen und abgelegt. Einsam und isoliert.
Der letzte Greisler hat geschlossen, der letzte Bus ist eingestellt, der letzte Job ist abgewandert. Die Welt gibt es da draußen, aber ich bin nicht mehr mittendrin. Die Welt mag tönend, farbig, warm und frisch sein. Meine Welt ist es nicht (mehr).
Unfreiwillig allein
In Österreich sagen 17%, dass sie im Ernstfall auf niemanden zählen können. Dass also niemand da ist, wenn man Hilfe braucht. Dass die Welt fremd geworden ist zu einem selbst. Wer sich von allen guten Geistern verlassen fühlt, verliert auch das Vertrauen in die Welt rundum.
Wer sich von allen guten Geistern verlassen fühlt, verliert auch das Vertrauen in die Welt rundum.
Den meisten kann man vertrauen. Stimmt das?
"Den meisten kann man vertrauen. Stimmt das?", fragt die Statistik Austria. Am wenigsten "Ja" darauf sagen können diejenigen, die schlechte Jobs haben, die unter der Armutsgrenze leben, die am sozialen Rand stehen. Und: In Ländern, in denen die soziale Schere zwischen Arm und Reich aufgeht, ist dieses "Ja" geringer – und zwar bei allen.
Unfreiwillige Einsamkeit (loneliness) macht krank und belastet unseren Alltag. Wir sprechen hier nicht vom selbst gewähltem Alleinsein (solitude), das uns im Fasten oder Schweigen Kraft gibt. Jeder zehnte klagt über soziale Isolation und Einsamkeit. Die Folgen wiegen schwer: Vereinsamte werden anfälliger für Krankheiten, schlittern öfters in eine Depression, verlieren an Mut. Einsamkeit wird schlimmer mit dem Alter, ärger mit Armut, bedrohlicher mit sozialen Krisen und belastender mit schlechter sozialer Infrastruktur.
Weltsinn
Einsamkeit bedeutet, sich von der Welt getrennt fühlen. Das "Kohärenzgefühl" beschrieb der Arzt Aaron Antonovsky als eine globale Orientierung, die das Maß ausdrückt, in dem man ein durchdringendes, andauerndes aber dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die eigene interne und externe Welt vorhersagbar ist und dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass sich die Dinge so entwickeln werden, wie vernünftigerweise erwartet werden kann.
Aus diesen Gründen wird das Kohärenzgefühl auch als "Weltsinn" bezeichnet. Antonovsky betonte, dass der Kohärenzsinn auf gesellschaftliche Bedingungen bezogen sei.
Keine Handlungsspielräume haben, weniger Anerkennung bekommen und von Dingen ausgeschlossen zu sein, über die andere sehr wohl verfügen, ist Ausdruck einer sozialen Krise, in der auf Dauer unsere Selbstwirksamkeit und unser Weltsinn leidet. - Was tun? Vieles. Siehe oben.
Wie beginnen? - An 5.000 Türen klopfen.
Nachbarschaft
Wir bringen Menschen zusammen, die sich gegenseitig unterstützen. Gute Nachbarschaft heißt, niemanden alleine lassen. Gute Nachbarschaft heißt, miteinander ins Gespräch kommen.
Die Diakonie engagiert sich in Grätzelinitiativen, sozialraumorientierten Projekte, Nachbarschaftshilfe, Quartier- und Community-Arbeit. Im Mittelpunkt stehen Stärkung und Teilhabe: "Tue alles dafür, dass Menschen können, was sie tun wollen."
Wie gute Nachbarschaft entsteht und wirkt, erzählen wir hier.Nachbarschaftszentren in Salzburg
Autor:innen
Mag. Martin Schenk
Direktion & GeschäftsführungGrundlagen & Advocacy
Stv. Direktor | Sozialexperte Armut, Gesundheit, Kinder- und Jugendhilfe