Unterstützte Kommunikation: Aber kommunizieren kann sie trotzdem
- Story
Als wir als frische Eltern vom Krankenhaus nach Hause gefahren sind, wussten wir noch nicht, was los war. Nach ein paar Wochen haben wir bemerkt: Isabella fällt es schwer, sich umzudrehen. Dann haben wir festgestellt, dass sie wenig krabbelt. Und etwas später war uns klar, dass sie nicht alleine aufstehen kann. „Sie ist eben ein bisschen langsamer als andere Kinder“, haben wir gehofft.
Isabella war zwei Jahre alt, als uns Experten gesagt haben: „Sie steht auf dem motorischen Entwicklungsstand eines neun Monate alten Kindes.“ Das war der erste große Schock für uns. Wenig später gab es dann die Diagnose: Isabella hat das Rett-Syndrom. Das war eine chaotische Zeit für unsere Familie. Isabellas zweite Schwester war gerade auf die Welt gekommen und auf einmal stand fest: Isabella wird nicht gehen können und einen Rollstuhl brauchen. Sie wird nicht sprechen können. Sie wird nicht, sie wird nicht, sie wird nicht… – das haben wir oft gehört.
Die Kommunikations-FrühförderInnen der Diakonie Zentrum Spattstraße haben uns dann einen Hoffnungsschub gegeben. Ich war damals ehrlich gesagt genervt von den vielen Therapien, die wir bis dahin ausprobiert hatten. Als die Frühförderin einen Taster hervorgeholt hat, auf dem man Geräusche aufnehmen und durch Draufdrücken abspielen konnte, habe ich mit den Augen gerollt. „Schon wieder etwas, das gut gemeint ist, aber nicht funktionieren wird“, hab ich mir gedacht.
Wir haben ein Lied aufgenommen und die Frühförderin hat mir erklärt: Das Lernen von Kommunikation beginnt mit „Ursache und Wirkung“. Wenn Kinder beim Essen den Löffel immer wieder auf den Boden werfen, ist das eine Vorstufe zur Kommunikation. Es macht „klirr!“, „Nicht schon wieeeder!“, rufen Mama oder Papa. Das Kind lernt, dass es in seiner Umwelt Reaktionen auslösen kann. Kinder, die eine körperliche Beeinträchtigung haben, können das oft nicht so ohne weiteres lernen.
Noch während unseres Gesprächs hat es „zack“ gemacht. Isabella hat „zack“ gemacht: Sie hat auf den Taster geschlagen und sich unglaublich gefreut, als daraufhin ihr Lieblingslied zu hören war. Mit diesem Moment hat vieles begonnen!
Wir haben uns in das Thema eingelesen, ich habe mich mit anderen Eltern vernetzt, wir haben Technologien und Werkzeuge angeschafft und gemeinsam mit den FrühförderInnen der Diakonie für die Zukunft geplant.
Eine der großen ersten Anschaffungen war ein „Talker“, eine Art Tablet, aber viel komplizierter und teurer als heutige Geräte. Isabella konnte durch Draufdrücken verschiedene Wörter abspielen. Längere Sätze konnte sie nicht formulieren. Aber auch mit einzelnen Wörtern hat sie sich immer wieder in Unterhaltungen eingebracht. Einmal habe ich mit meinem Mann telefoniert, der für ein paar Tage auf Montage war. Ich wollte gerade auflegen, da hat Isabella, sie war damals sechs Jahre alt, mit dem „Talker“ „Pfiati! Pfiati! Pfiati!“ gesagt. Da ist mir das erste Mal bewusst geworden: Meine Tochter hört zu, ist dabei und redet mit!
Heute hat Isabella eine Kopfsteuerung: Ein kleiner Punkt auf ihrer Stirn oder Brille reflektiert Infrarot-Licht in eine Spezialkamera, diese erkennt damit, wie sie den Kopf bewegt und so kann Isabella Wörter auswählen. Vereinfacht gesagt: Dreht Isabella den Kopf nach rechts, bewegt sich die Maus am Bildschirm nach rechts. Bevor wir bei diesem Gerät landeten, haben wir vieles ausprobiert – ohne Erfolg. Als Isabella die Kopfsteuerung das erste Mal testete, kommunizierte sie immer wieder „Hose“ und „Katze“. Ich war schon kurz davor, es aufzugeben, da hat die Frühförderin plötzlich zu Lachen begonnen. Dann hat sie ihr Hosenbein hochgekrempelt. Und darunter kamen rosa Socken mit Katzen zum Vorschein!
Isabella ist jetzt 18 ½ Jahre alt. Auch heute kommuniziert sie anders als wir und meist bestehen ihre Sätze aus wenigen Wörtern. Aber das genügt. Manchmal kommuniziert sie auch etwas zeitversetzt. Vor ein paar Tagen hatten wir ein Computer-Problem und ich habe zu meinem Mann gesagt, dass wir meinen Schwager anrufen und um IT-Support bitten müssen. Dann ist irgendwas dazwischengekommen und wir haben darauf vergessen. Eine halbe Stunde später sagt Isabella auf einmal: „Onkel Gerhard, Computer, kaputt, blöd.“
Manchmal dauert es, bis wir Isabella verstehen. Ihre beiden Schwestern meinen: „Mit Isabella spielt man irgendwie immer Activity!“
Durch die Unterstützte Kommunikation kann Isabella dabei sein, Informationen weitergeben und vor allem auch Gefühle ausdrücken und diese erklären. Auf ihrem Computer hat sie auch eine Seite mit Schimpfwörtern, befüllt von ihren Schwestern, mit coolen Begriffen, altersgemäß.
Zur Corona-Zeit sagt sie: „Ich hasse das“, „das ist voll nervig“ und „das ist voll unfair“.
Gerade jetzt zeigt sich, wie wichtig die Unterstützte Kommunikation ist. Wir alle haben momentan viele Fragen, Sorgen und Emotionen. Und was tun wir? Wir reden darüber, wir tauschen uns aus, wir hören einander zu.
Durch die Unterstützte Kommunikation haben wir Isabellas Persönlichkeit kennengelernt.
Sie wird nicht, sie wird nicht, sie wird nicht… Ja, Isabella wird nicht alles können. Aber vieles!
„Nicht reden zu können, das stelle ich mir so schlimm vor!“, habe ich vor Jahren zu einem Arzt gesagt.
„Aber Frau Malzer, Sie haben mir doch gerade erzählt, dass ihre Tochter so viele Fortschritte macht“, hat er geantwortet.
„Ja, aber sie wird nie so reden können, wie ich rede!“
Was der Arzt gesagt hat, werde ich nie vergessen: „Ich gehe jede Woche laufen. Das tu ich gerne. Aber ich werde in meinem ganzen Leben keinen Marathon laufen können. Trotzdem kann ich laufen. Isabella wird wahrscheinlich nie mit dem Mund reden. Aber kommunizieren kann sie trotzdem.“
Romana Malzer ist Berufs- und Sozialpädagogin und zuständig für Beratung & Schulung bei LIFEtool.
Recht auf Kommunikation! Ein Rechtsanspruch auf technische Hilfsmittel ist für Menschen mit Sprachbehinderungen weiterhin ausständig.
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