Tausend Mal ein Dach über dem Kopf
- Story
„Komm am Montag in der Früh ins Austria Center.“ So beginnt Sarah Brandstetters Einsatz für die ukrainischen Vertriebenen. Ihre persönlichen Pläne verschiebt sie erstmal, als der Krieg ausbricht. „Ich war vom ersten Tag an dabei, als das Projekt Wohnraumvermittlung der Diakonie im Austria Center Vienna (ACV) aus dem Boden gestampft wurde.“
Sarah hat zuvor ein paar Jahre in der Ukraine und in Russland gelebt, spricht sehr gut Russisch und kann auch ein wenig Ukrainisch. Das ist im Beratungsalltag sehr wertvoll, denn Dolmetscher:innen sind rar. „An meinem ersten Tag saß ich mit einem erfahrenen Kollegen am Beratungstisch, als eine ukrainische Familie zu uns kam, die kein Deutsch oder Englisch sprach. Der Kollege wollte die Dolmetscherin holen, da habe ich gesagt: Ich kann übersetzen.“
Ein Rückzugsort als Geschenk
Oft sind es Familien, aber nicht nur, die ihre Häuser und Wohnungen für die ukrainischen Vertriebenen öffnen und ein oder mehr Zimmer zur Verfügung stellen. Immer wieder bieten Spender:innen auch ganze Wohnungen an. „Wir sind im Team total überwältigt von der Hilfsbereitschaft der Menschen.” Auch die Spontanität und Flexibilität vieler Unterkunftgeber:innen ist bemerkenswert: „Ein paar Mal hatte ich eine ukrainische Familie vor mir sitzen, die verzweifelt gesagt hat: Wir haben ab morgen oder übermorgen keinen Platz zum Wohnen mehr.“ Es fanden sich sofort Wohnraumspender:innen, die bereit waren, die Gestrandeten aufzunehmen.
Besonders herausfordernd ist es, große Familien gut unterzubringen. Ein außergewöhnlicher Fall, der Sarah lebhaft in Erinnerung geblieben ist: „Das war ein Sonntagnachmittag und eigentlich schon nach Dienstschluss. Vor mir sitzt eine siebenköpfige Familie, die stundenlang geduldig gewartet hat. Die Mutter ist hochschwanger und, wie ich erfahre, schon eine Woche über dem Geburtstermin.” Sarah telefonierte fieberhaft Wohnraumspender:innen durch und hatte großes Glück: Eine Unterstützerin hob tatsächlich ab und sagte sofort zu. Zwei Stunden später fuhr die Familie direkt vom ACV zu ihrem neuen Zuhause auf Zeit.
Vielen Dank für Ihre Hilfe. Wir haben die Wohnung bereits besichtigt, alles ist in Ordnung, alles passt sehr gut! Die Gastgeber sind freundlich, sie haben uns alles gezeigt und die Schlüssel wurden bereits übergeben. Jetzt kann ich mein Kind sicher zur Welt bringen.
Wie funktioniert das „Matching“?
Zwei Wochen sind zu kurz. Der Wohnraum auf Zeit muss bestimmte Kriterien erfüllen, zum Beispiel eine Mindestverfügbarkeitsdauer von drei Monaten. Nur so können die Geflüchteten, die ihr Zuhause verlassen mussten und oft traumatisiert sind, endlich zur Ruhe kommen. Auch Rückzugsmöglichkeiten muss es für beide Seiten geben, damit das Zusammenleben funktioniert.
Beim Matching achten die Wohnraumvermittler:innen sehr darauf, dass die Unterkunftgeber:innen und ihre neuen Mitbewohner:innen gut zusammenpassen. Wenn sie Spenden entgegennehmen, klären sie zuerst telefonisch die Gegebenheiten des Wohnraums ab und pflegen dann alle Details in die Datenbank ein: Platzangebot, Alter der Bewohner:innen, tierische Mitbewohner. In den Beratungsgesprächen mit den ukrainischen Geflüchteten werden dann ganz genau die Bedürfnisse erfasst und mit dem Angebot abgeglichen. Kann etwa jemand keine Treppen steigen oder ist auf Tierhaare allergisch? Gibt es Kinder in einem ähnlichen Alter?
Sind die passenden Gegenüber gefunden, dann organisiert die Wohnraumvermittlung einen Besichtigungstermin. Ab diesem Zeitpunkt läuft der Prozess ohne ihr Zutun weiter. „Wir bekommen sehr viele positive Rückmeldungen von den ukrainischen Familien und den Unterkunftgeber:innen, das gibt einem ganz viel zurück“, sagt Sarah.
Gestern haben wir uns mit den Eigentümern der Wohnung getroffen. Das sind unglaubliche Menschen. Wir wurden herzlich empfangen. Es ist sehr berührend und angenehm, dass es so freundliche und verständnisvolle Menschen auf der Welt gibt. Gestern haben wir den Vertrag unterschrieben.
Wohnraum für alle?
Die Solidarität in der Zivilgesellschaft war und ist bisher überwältigend. Doch auf die erste Welle der Hilfsbereitschaft folgt oft Stagnation. „In den letzten Tagen ist es bei den Wohnraumspenden etwas ruhiger geworden“, meint Sarah. Ob der privat gespendete Wohnraum knapp wird, bleibt abzuwarten und zu beobachten.
Die Motivation unter den Wohnraumvermittler:innen ist unverändert hoch. Ermüdungserscheinungen begegnen sie mit einem starken Zusammenhalt im Team: „Es hilft, mit einer Kollegin oder einem Kollegen mal an die frische Luft zu gehen, zu reden und Kraft zu tanken.” Auch Supervision gehört dazu. „Trotzdem ist es manchmal schwierig, die Emotionen nimmt man immer ein bisschen nach Hause mit. Wir versuchen uns auf das zu konzentrieren, was wir machen können, wissend, dass viele Hilfsangebote im Aufbau sind.“
Die Wohnraumbereitstellung für die ukrainischen Vertriebenen braucht mehr Struktur und mehr Ressourcen, das wünschen sich Sarah und die anderen Helfer:innen. „Ich habe keinen Einblick, was hinter den Kulissen schon entsteht, aber insgesamt brauchen wir mehr Wohnraum. Nicht nur private Spenden, sondern auch von offizieller Seite. Denn die, die wir nicht unterbringen können, müssen in Notschlafstellen.“
Über tausend Mal hat die Wohnraumvermittlungsstelle der Diakonie in den letzten Monaten erfolgreich ein Zuhause auf Zeit an ukrainische Geflüchtete vermittelt. Ob das Sarah stolz macht? „Ich bin nicht so der Zahlenmensch”, sagt sie. „Ich freue mich einfach über jeden einzelnen Menschen, der jetzt ein Dach über dem Kopf hat.”
Ukraine: So können Sie jetzt helfen
Die Diakonie hilft Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind. Es gibt viele Möglichkeiten die Arbeit der Diakonie unterstützen!
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