Schulassistenz öffnet die Tür zu Bildung und Inklusion

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04. September 2017
Doris Auberger ist die ehemalige Schulassistentin von Helene Geißler. Helene wurde von Doris im Kindergarten, in der Volksschule, in der Hauptschule und in der Handelsakademie betreut. - Sie haben sich Jahre nach Helenes Matura wieder getroffen, und sprechen über die gemeinsame Zeit.

Helene ist eine selbstbewusste, hübsche junge Frau im Alter von 22 Jahren. Vor drei Jahren maturierte sie an der Handelsakademie in Rohrbach. Dann begann sie zu arbeiten und ist jetzt an der Studienbeihilfenbehörde in Linz beschäftigt. Dort hat sie viel mit Menschen zu tun. „Ich berate Studierende bei der Antragstellung am Telefon oder im persönlichen Gespräch. Nach diesen Erstgesprächen leite ich die Studierenden und deren Anträge an die zuständigen Personen weiter“, erzählt Helene ohne zu stocken.

Helene und Doris Auberger haben 15 Jahre lang den Alltag zusammen verbracht

Das alles ist nicht selbstverständlich, denn Helene lebt seit ihrer Geburt mit Spastischer Diplegie, einer Form der Querschnittlähmung. In Helenes Büro stehen ein paar private Fotos auf einem Regal. Eines davon zeigt sie lachend mit ihrer ehemaligen Schulassistentin Doris Auberger bei einem Schulausflug. Den Kontakt zu Doris hat Helene bis heute nicht verloren, denn diese Frau hat sie 15 Jahre ihres Lebens intensiv begleitet. Begonnen hat diese einzigartige Beziehung schon im Kindergarten. Um der damals dreijährigen Helene den Kindergartenbesuch zu ermöglichen, wurde in der Gemeinde Julbach im oberen Mühlviertel eine Stützkraft gesucht. Doris Auberger hat sich dafür beworben und die Stelle bekommen. Sie hatte zu dieser Zeit selber eine junge Familie mit einem dreijährigen Sohn und einer elfjährigen Tochter. Ihre frühere Tätigkeit im Gastgewerbe ließ sich nur schlecht mit der Betreuung der eigenen Kinder und dem Familienleben vereinbaren.

Doris erinnert sich an die Zeit als Stützkraft: „Ich hab Helene vom Bus abgeholt und in den Kindergarten hineingetragen. Helene konnte damals schon mit Vierpunktstöcken gehen. Wir haben geschaut, dass sie einfach überall dabei sein konnte, in der Puppenküche, beim Spielen und so weiter.‘“ Helene kann sich noch genau an diese Zeit erinnern. „Ich habe die Verkleidungskiste mit den schönen Kleidern so geliebt. Wie oft Du mich anziehen und ausziehen musstest!“

„Helene ist erwachsen und selbständig geworden. Es ist toll, wie sie ihr Leben meistert mit alleine wohnen, Auto fahren, arbeiten. ... Eine gute Ausbildung ist das Um und Auf.“

Doris Auberger, Assistentin

Ihre Erinnerung beginnt erst mit der Kindergartenzeit. Eine Zeit ohne Doris gibt es für Helene nicht. Nach dem Kindergarten war klar, dass Helene auch in der Schule Assistenz brauchen würde. „Das war 1999. Ich habe mich im Diakonie Zentrum Spattstraße beworben und hatte Glück, denn in diesem Jahr wurde die Zahl der Schulassistentinnen von 70 auf 140 verdoppelt. Und Helene hatte auch Glück, denn in der Gemeinde Julbach wurde mit einer Integrationsgruppe gestartet, sonst hätte sie wahrscheinlich nach Rohrbach fahren müssen.“ 20 Stunden jede Woche wurde Helene von ihrer Schulassistentin begleitet. „Die Volksschullehrerin, die Sonderpädagogin und ich als Assistentin, wir waren ein eingespieltes und gutes Team“, erinnert sich Doris. „In der Volksschule ist es mir gut gegangen, aber die Hauptschule habe ich nicht in guter Erinnerung. Da wurde ich oft gemobbt. Es gab eine Rädelsführerin, die hat alle anderen beeinflusst. Da hatte ich keine Chance. Nur wenn Doris da war, gab es keine Probleme.“

Je älter Helene wurde, umso selbständiger wurde sie auch. In der Hauptschule in Ulrichsberg waren die Schulassistenzstunden schon auf 15 reduziert. Manche Aussagen ihrer MitschülerInnen hat Helene bis heute schmerzhaft im Gedächtnis: „Z.B. in Geometrisch Zeichnen: ‚Du hast ja eh Doris, die dir hilft.’ Ich hatte für Tests und Schularbeiten mehr Zeit zur Verfügung als die anderen. Doris und ich sind da auch in einem anderen Raum gewesen. Dann haben die Schüler immer gesagt: ‚Ist eh klar, dir hat ja die Doris geholfen.’ Das hat mich in dem Alter einfach total verletzt. Jetzt wäre es mir egal. Damals war das sehr anstrengend für mich.“

Helene beschreibt den Übergang in die Höhere Schule in Rohrbach: „Den ersten Schultag in der Handelsakademie (HAK) werde ich auch nie vergessen. Ich habe mich ganz eingeschüchtert und verängstigt von den Erfahrungen in der Hauptschule in die letzte Reihe ganz abseits gesetzt. Es waren nicht mehr viele Plätze frei. Ein Mädel ist dann auf mich zugekommen und hat gemeint: ‚Wenn Du da sitzen bleibst, machst Du dich gleich selber zum Außenseiter.’ Sie hat einen Tisch zu einer der vorderen Reihen geschoben und so neben sich Platz geschaffen. Dadurch bin ich aufgetaut. Wir sind bis heute beste Freundinnen.“ Je selbstständiger Helene geworden ist, umso mehr hat sich die Schulassistenz für Doris zur Persönlichen Assistenz gewandelt: „Wo du mich gebraucht hast, habe ich in etwa gewusst. In der HAK haben wir den Stundenplan gemeinsam durchgesehen und Du hast mir gesagt, wo es Dir wichtig ist, dass ich dabei bin.“ Helene erklärt das genauer: „Das war vor allem an den Tagen, wo ein Raumwechsel erforderlich war. Dass die Sachen hin und her getragen werden in der Übungsfirma oder um in den Bus ein- und aussteigen zu können, und bei den Schulausflügen. Ohne Doris hätte ich einfach nie mitfahren können.“

Die beiden erinnern sich an viele Barrieren, die sie gemeinsam überwunden haben

Die beiden erinnern sich an Ausflüge nach Tschechien, England, Spanien und Polen. Barrierefreiheit gab es nirgends, das war für beide eine körperliche und psychische Herausforderung. Sie erinnern sich an die Reise nach London. Die SchülerInnen waren bei verschiedenen Gasteltern untergebracht. Für den nächsten Morgen war ein gemeinsamer Treffpunkt vereinbart. Helene schildert: „Bei der Gastmutter sind wir erst am Abend angekommen, es war schon dunkel, es hat geregnet, ich war sehr nervös, bin das erste Mal geflogen und jetzt muss ich da zu fremden Leuten ins Haus. „Oh my god, a wheelchair. The bedrooms are upstairs!“ hat die Gastmutter ausgerufen, als sie uns sah, ohne Hallo oder Begrüßung.“ „Alles war beengt, die Badewanne war so hoch, da hab ich dich komplett drüberheben müssen, sonst hättest Du nicht duschen können. Die hat nichts gewusst von Deiner Behinderung und wir waren weiß Gott wie weit weg von den anderen. Normalerweise hat es geklappt mit den Quartieren, aber da ist irgendwas schiefgegangen“ ergänzt Doris.

„Das schaffen wir nicht habe ich von Doris nie gehört. Vielleicht: Das könnte schwierig werden.“

Helene

Zwei Kindergartenjahre und 13 Schuljahre lang hat Helene die Unterstützung von Doris erlebt. Doris ist sehr stolz auf Helene und auf das, was sie gelernt und geschafft hat. Für sie ist der Zugang zu Bildung der Schlüssel für Integration: „Helene ist erwachsen und selbstständig geworden. Immer wenn ich mich mit jemandem über die Arbeit unterhalte, betone ich, wie toll Helene das meistert mit alleine wohnen, Auto fahren, arbeiten. Sie steht voll im Leben und hat eine gute Schulausbildung, was für beeinträchtigte Kinder und Jugendliche unbedingt notwendig ist. Eine gute Ausbildung ist das Um und Auf.“

Helene freut sich schon auf den Urlaub, heuer fliegt sie mit Freunden für eine Woche nach Paris. Die Erinnerung an die gemeinsamen Ausflüge während der Schulzeit helfen ihr dabei. „Das schaffen wir nicht habe ich nie gehört von Doris. Vielleicht: Das könnte schwierig werden. Doris ist einfach ein liebenswerter, warmherziger und extrem hilfsbereiter Mensch. Sie hat so einen ungezwungenen Umgang und eine offene Ausstrahlung. Sie hatte nie Berührungsängste.“ Verständlich, dass Helene an ihrem Arbeitsplatz gerne auf das Foto mit Doris blickt, das für sie genau dieses Zutrauen und diese Wärme ausstrahlt. 

Schulassistenz: Erfolgreiches Vorzeige- und Chancenmodell

Allein 530 Schulassistentinnen an 315 Schulen für über 1000 Kinder in Oberösterreich. Die Assistenz ermöglicht beispielsweise Kindern mit Beeinträchtigung den Besuch der Schule in ihrer Wohngemeinde. Assistentinnen helfen bei Tätigkeiten, die Schüler aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht ohne Hilfe ausführen können. Die Tätigkeiten reichen vom An- und Ausziehen, Hilfestellung beim Essen bis zu Unterstützung in der Klasse beim Lernen.

Die Diakonie arbeitet derzeit mit 530 AssistentInnen an 315 Schulen in ganz Oberösterreich. Sie betreuen mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche.