Neuer Zusammenhalt? Neuer Zusammenhalt!

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29. Juli 2020
Ein Blick auf die sozialen Herausforderungen, vor denen wir durch die Corona-Krise stehen.

Kann die Corona-Krise auch eine Chance sein für unsere Gesellschaft? wird immer wieder gefragt. - Hinter dieser Frage stehen eine Hoffnung und ein Bedürfnis. Das Bedürfnis, der Krise etwas Positives abzugewinnen, um sich nicht gänzlich dieser anonymen Macht eines Virus ausgeliefert zu fühlen. Und die Hoffnung, die Grunderfahrung, dass niemand für sich allein gegen das Corona-Virus kämpfen kann und wir diese Krise nur gemeinsam überstehen können, den neu entdeckten Wert des Zusammenhalts und der Solidarität mitzunehmen in die Zeit nach Corona. So verständlich dieses Bedürfnis und so berechtigt diese Hoffnung sind – die Krise ist keine Chance. Diese Krise ist vielmehr eine Lupe, unter der wir Fragen, die sich in unserer Gesellschaft grundsätzlich stellen, deutlicher und klarer sehen können.

Die Corona-Krise ist keine Chance. Diese Krise ist vielmehr eine Lupe, unter der wir grundsätzliche gesellschaftliche Fragen deutlicher und klarer sehen können.

Maria Katharina Moser, Diakonie Direktorin

Soziale Ungleichheit

So sehr wir alle auf die eine oder andere Art und Weise von Corona betroffen sind und so sehr es in unser aller Interesse ist, gut und gesund durch diese Krise zu kommen – wir sitzen nicht alle im selben Boot. Vor dem Virus sind wir nicht alle gleich. Fragen der sozialen Ungleichheit stellen sich in der Corona-Krise nicht nur weiterhin, sondern verschärft.

Benjamin und Kevin zum Beispiel: 

Sie gehen in die gleiche Klasse. Beide müssen sie zu Hause lernen, und ihre Eltern arbeiten im Homeoffice. Aber während Benjamin ein eigenes Zimmer hat, müssen Kevin, seine Mutter und seine drei Geschwister miteinander auf 50 m2 auskommen.

Während Benjamin einen Schreibtisch hat, an dem er in Ruhe lernen kann, muss Kevin erst ein Eck am Küchentisch für sein Buch freimachen. Während Benjamin am Tablet-PC seine Schulaufgaben erledigt und seine Mutter im Nebenzimmer am Laptop arbeitet, streitet Kevin mit seiner Schwester, wer von ihnen als erster an den Familiencomputer darf, wenn die Mutter endlich für heute fertig ist mit Home-Office.

Während Benjamins Mutter in der Früh das Biokistl vor der Haustür vorgefunden hat, weiß Kevins Mutter nicht, wie sie, wenn das Monatsende naht, den Kühlschrank füllen soll, denn die Kinder bekommen derzeit kein ermäßigtes Essen in der Schule.

Die sozialen Kompositionseffekte sind aus der Zeit vor Corona bekannt: Schulen an so genannten Brennpunkten sind oft schlecht ausgestattet, was sich auswirkt auf die Bildungschancen der Kinder, die in überbelegten Wohnung leben und keinen ruhigen Platz zum Lernen haben; was wiederum zusammenfällt mit einer Halbtagsschulordnung und einem einkalkulierten Nachhilfesystem, das auf wenig Einkommen trifft. Das Ineinandergreifen von „Vererbung von Armut“ und Bildung wird unter Corona-Bedingungen neu formatiert.

Damit sich diese Dynamik durch die Corona-Krise nicht weiter verschärft, schlägt die Diakonie gemeinsam mit anderen Organisationen, mit denen sie in der Armutskonferenz vernetzt ist, ein Bündel von Maßnahmen vor, die jenen helfen, die bereits vor Corona von Armut betroffen waren, und jenen, die in der Krise durch Arbeitsplatzverlust an und unter die Armutsgrenze rutschen:

  • Befristete Erhöhung der Mindestsätze für die Ausgleichszulage, an der sich die Zuerkennung von Sozialhilfe orientiert, auf 1.000 Euro;
  • einen Sozialfonds auf Bundesebene, dotiert mit 100 Millionen Euro, aus dem die Länder die im Rahmen der Sozialhilfe vorgesehene „Hilfe in besonderen Lebenslagen“ finanzieren können;
  • befristete Erhöhung des Familienzuschlag im Arbeitslosenversicherungsgesetz, der aktuell bei € 0,97 pro Tag liegt;
  • Öffnung des Corona Familienhärtefonds für BezieherInnen von Sozialhilfe und damit für jene 80.000 Kinder, die unter Sozialhilfebedingungen leben;
  • Initiativen zu Lernunterstützung für Kinder aus bildungsfernen Familien und zur Schulentwicklung an benachteiligten Standorten.

Alter, Pflege, Demenz

Besonders betroffen von der Corona-Krise sind die über 466.000 PflegegeldbezieherInnen. Für sie ist das Risiko eines schweren Covid19-Erkrankungsverlaufs besonders hoch. Dass die Langzeitpflege ein neuralgischer Punkt bei der Eindämmung der Pandemie ist, war (zwar nicht von Anfang an, aber dann doch) im Blick. Im Fokus dabei: Schutzbekleidung, Masken und Tests. Zurecht, denn im Vergleich zu den unter 50jährigen haben alte Menschen mit Pflegebedarf ein 50- bis 80-fach erhöhtes Risiko zu versterben, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Krankenhausbett oder intensivmedizinische Versorgung brauchen, ist 100 bis 1000-fach höher. Gleichzeitig zeigt sich hier eine Problematik, die es vor Corona schon gab: die Medikalisierung von Alter und Pflege.

Natürlich, die hochprofessionelle medizinische Pflege muss sichergestellt werden, und in Zeiten von Corona muss penibel auf den Schutz vor einer Infektion geachtet werden. Aber die Gestaltung des Lebens von Menschen mit (hohem) Pflegebedarf muss sich am Maßstab eines „normalen“ Alltags und an den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen orientieren, und in Zeiten von Corona müssen auch die psychosozialen Folgen von Isolationsmaßnahmen beachtet werden. Soziale Kontakte und Aktivitäten, Beziehungen und Berührungen sind Lebenselixier für alte, pflegebedürftige Menschen. Besonders wenn sie mit Demenz leben. Manche brauchen dringend Bewegung und können nicht verstehen, warum sie in ihrem Zimmer bleiben sollen. Bei manchen Klienten und Klientinnen mit Demenz mussten wir feststellen, dass sich ihre Demenz verschlechtert, sie verwirrter und agitierter wurden, schwerer zur Ruhe kamen.

Trotz allem war und ist die Stimmung in den Pflegeheimen der Diakonie gut. Erstaunlich gut, sagen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Sie haben auch viel Kreativität und Energie investiert, um die negativen Folgen von Besuchsverboten und Isolation abzufangen. Sie organisieren für die BewohnerInnen Videotelefonate mit Angehörigen, anstelle von Konzerten im Heim organisieren sie Konzertübertragungen und anstelle von Gottesdiensten in der Kapelle Balkongottesdienste. Genau diese Erfahrungen sind es, die Pflege zu einer guten, bereichernden Arbeit machen. Pflege ist mehr als „satt und sauber“ und das Abarbeiten von Checklisten. Dies gilt es auch ins Zentrum der anstehenden Pflegereform, die nicht wegen Corona auf die lange Bank geschoben werden darf, zu stellen.

Gute Nachbarschaft

Sowohl in der Pflege als auch in der Armutsbekämpfung ist der Sozialstaat gefordert. Um die anstehenden Probleme zu lösen, braucht es die richtigen strukturellen Maßnahmen und die entsprechende Finanzierung. Sowohl Pflege als auch Armut sind soziale Fragen, bei denen soziale Isolation eine große Rolle spielt – und unter der Lupe „Corona-Krise“ zeigen sich die problematischen Folgen sozialer Isolation klar und deutlich. Wir sehen aber auch – gerade in den Städten – deutlich, was soziale Isolation durchbrechen kann: gute Nachbarschaft, sorgende Gemeinschaften. Die Diakonie und andere Hilfsorganisationen haben zahlreiche Nachbarschafts-Hotlines ins Leben gerufen. Menschen, die sich vorher nicht kannten, sind so in Kontakt gekommen. Haben sich gegenseitig unterstützt. Mit Einkäufen, Lernhilfe, Gesprächen. Eine Lernerfahrung, die wir mitnehmen können in die Zeit nach Corona: Sozialstaatliche Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und Pflegereform brauchen alltagsnahe, sozialräumliche Konzepte. Es geht um gutes Zusammenleben vor Ort.

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Der Artikel wurde erstveröffentlicht im Magazin des Österreichischen Städtebunds Nr. 6/2020 (S.46/47)

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