Nächstes Level: Ankommen

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17. Juni 2022
Rashid flüchtete als Jugendlicher aus Syrien nach Europa und verlor unterwegs seine Eltern aus den Augen. Seine Geschichte lässt ahnen, welche Zutaten ein Erfolgsrezept für gelingende Integration beinhalten könnte.

Über Tiefpunkte spricht Rashid Darda nicht gern. „Ich glaube immer an den Satz, dass die Zeit heilt. Man muss den Blick nach vorne richten“, sagt er und klingt mit seinen 23 Jahren sehr weise. Er erreichte 2014 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling Österreich. Auf der Flucht aus Syrien hatte er seine Eltern aus den Augen verloren.

Nach Zwischenstationen in Flüchtlingsunterkünften in Traiskirchen und Baden kam Rashid bei seiner Tante in der Nähe von Wien unter. Das war erleichternd und unbefriedigend zugleich, weil persönliche Konflikte das Zusammenleben belasteten.

Am schlimmsten war das Warten. „Ich hatte keine Rechte, keinen Aufenthaltstitel. Aber vor allem hatte ich keine Kontakte, und ich hatte einfach nichts zu tun.“ Rashid versuchte beharrlich, einen Platz in einer Schule zu bekommen, was sich als schwierig herausstellte. Die fehlende Sprachkompetenz war eine Hürde und die Einteilung in die passende Schulstufe eine Herausforderung. Es dauerte zehn Monate, bis er endlich einen geeigneten Schulplatz gefunden hatte. Und er würde letztlich nur fünf Monate dortbleiben und dann weiterziehen.

Rashid ist keiner, der stillsteht. Er nutzte den Überfluss an Zeit, um Deutsch zu lernen. Stufe A1, dann A2, er machte sich fit für die Schule. Heute spricht er so exzellentes und fast fehlerfreies Deutsch, dass man die Anfänge kaum noch erahnt. Er kommt aus einem gebildeten Umfeld, hatte schon bei seiner Ankunft in Österreich Englisch, Arabisch und Russisch im Gepäck. „Meine Sprachkenntnisse haben mir in vielen Bereichen geholfen“, bestätigt Rashid und Stolz schwingt in seiner Stimme mit.

Die Sprachbarriere hatte er geknackt, in der Schule war es dann trotzdem nicht so einfach. „Die anderen haben nicht verstanden, wie sich das aus unserer Perspektive anfühlt.“ Er meint, wenn man selbst der Geflüchtete ist. Er wollte dazugehören, aber es blieb immer eine Kluft zwischen ihnen. Vielleicht, vermutet Rashid, spielte auch der Altersunterschied eine Rolle, er hatte durch Flucht und Wartezeit immerhin fast zwei Jahre verloren. Und auch, dass die Mitschüler:innen von einseitigen Medienberichten geprägt waren. Berührungspunkte mit echten Flüchtlingen hatten sie vor ihm ja noch nie gehabt. Rashid will alles in einen Kontext rücken, verstehen, erklären.

Vor der vielen Freizeit und Einsamkeit flüchtete er in die digitale Welt und versuchte sich weiter als E-Sports-Spieler zu professionalisieren – ein Ziel, das er schon in Syrien verfolgt hatte. Hier konnte er seinem ungestillten Ehrgeiz Raum geben und zumindest virtuelle Verbindungen eingehen. Aber die emotionale Leere konnten auch die nicht füllen. Dem damals Fünfzehnjährigen fehlten persönliche Kontakte und echte Austauschmöglichkeiten mit anderen Jugendlichen.

Zeitsprung: 2022. An der Tür von Doris Battlog klopft es und ein junger Mann schaut herein: Rashid. Er hat sich zu ihr durchgefragt, denn sie arbeitet nicht mehr dort, wo sie früher einmal tätig war, in der Jugendberatung der Diakonie. Einer ehemaligen Kollegin ist es zu verdanken, dass er den Weg zu ihr gefunden hat. „Er wollte einfach nur Danke sagen“, meint Doris gerührt. „Ich bin so stolz, wie er seinen Weg gemacht hat, wie hartnäckig er war.“

Jugendberaterin Doris Battlog fing Rashid auf, als er, wie er sagt „psychisch am Boden war“. Er fühlte sich isoliert und die Konflikte mit der Tante spitzten sich zu. Nach den Wirren der Flucht vergingen Monate, bevor sich seine Eltern endlich bei ihm meldeten: Der Vater aus Köln, die Mutter aus der Türkei. Doris begleitete Rashid durch den unübersichtlichen Behördendschungel und unterstützte ihn beim Antrag auf Familienzusammenführung.

Und noch eine weitere Impulsgeberin wurde richtungsweisend: Eine Beraterin des Jugendamtes, die sich sehr für Rashid einsetzte. Sie war es auch, die ihn motivierte, sich in einem Verein einzuschreiben, um Kontakte zu knüpfen.

Anker. So lernte er seinen Freund und wichtigsten Begleiter, Basketballcoach Thomas Klengl, kennen. Der Trainer und sein engster Kreis wurden zu Rashids stärksten Ankern in der neuen Heimat. Dass seine Reise ihn schließlich von Österreich weiter nach Deutschland führen würde, tat den Bindungen, die er inzwischen eingegangen war, keinen Abbruch. Der Kontakt mit seinem Coach und anderen Vertrauten blieb bestehen. Als er auf seinem Österreichbesuch überraschend bei Doris auftauchte, klopfte er noch an einige weitere Türen, um Hallo und Danke zu sagen.

Für meine Eltern ist es bestimmt schwieriger. Sie mussten sehr viel zurücklassen. Aber Hauptsache, meine Familie ist in Sicherheit.

Rashid

Mit seinen Eltern Zahra und Hani Darda fand Rashid 2016 wieder zusammen. Die Familie lebt nun in Düren nahe Köln. Er hat einen Studienplatz an der Universität Aachen ergattert und damit einen persönlichen Meilenstein erreicht. „Die ist unter den Top 3 im Bereich Informatik“, sagt er. „Ich wollte unbedingt studieren, auf jeden Fall in Richtung Web Developer oder Cyber Security.“ Für den großen Traum vom Studium ordnete er seine Prioritäten neu und stellte die Ambitionen als professioneller Gamer hintan. Es gelang ihm trotzdem, mit der E-Sports-Welt verbunden zu bleiben: Als Interviewer für die E-Sports-League (ESL) und als Gaming Tournament Organiser kann er seine Sprachkenntnisse einsetzen und verdient sich neben dem Studium etwas dazu.

Die Frage, ob Rashid nach seiner Flucht gut in Europa angekommen ist, ist eine, die man nicht stellen muss. Er ist mit seiner Familie vereint, hat Freunde, eine Ausbildung und Ziele. Er hat eine Identität gefunden, die mit seiner Geschichte im Einklang ist. Einmal sagt er, ganz Deutscher, „hier bei uns in Nordrhein-Westfalen“ und bekräftigt gleichermaßen, dass er immer Syrer bleiben wird, egal wo und mit welchem Pass er lebt. Sein Ankommen ist nicht mit einem konkreten Ort verbunden. Wo er dauerhaft Fuß fassen möchte, hängt auch von seinem weiteren beruflichen Pfad ab. Vielleicht ja in Wien, er habe eine starke Verbindung zu der Stadt: „Ich habe mich in Wien sehr, sehr wohl gefühlt.“

Rashids Weg erinnert selbst ein wenig an die vielschichtigen strategischen Online-Games, die er spielt. Er öffnet die richtigen Türen, findet wohlgesinnte, hilfreiche Tippgeber- und Gefährt:innen, sammelt Hinweise und Fertigkeiten, macht aus Hürden Herausforderungen, meistert das Level und steigt ins nächste auf, den Blick auf das Ziel gerichtet.

Jung sein hilft. „Für meine Eltern ist es bestimmt schwieriger“, resümiert Rashid. „Sie mussten sehr viel zurücklassen. Aber Hauptsache, meine Familie ist in Sicherheit.“

Eine gruppe von Menschen sitzt bei Kaffee und Kuchen um einen Tisch.
Gemeinsam die Zukunft gestalten! / © Nadja Meister

Flucht und Integration

Es hat in Österreich Tradition, Menschen auf der Flucht Schutz und Hilfe zu gewähren. Die Diakonie steht in dieser Tradition. Sie unterstützt Menschen auf der Flucht und hilft bei der Integration.

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