"Mein Spiegelbild war mir unerträglich"
- Story
"Geschafft!" - Erleichtert legt Birgit das Besteck zurück auf den leeren Teller. Ihre Betreuerin sitzt neben ihr und nickt wohlwollend. Das tägliche Abendessen ist die größte Herausforderung, die Birgit zu bewältigen hat. Seit vier Monaten wohnt sie nun schon in der WG Kaya, und schön langsam gewöhnt sie sich daran, dass sie Bissen für Bissen ihrem Körper mehr Kalorien zuführt. Was für andere Menschen eine Selbstverständlichkeit ist, bedeutet für Birgit harte Arbeit. Seit 10 Jahren ist ihr Körper nun schon unterernährt.
Begonnen hat die Tortur mit Beginn ihrer Pubertät: "Eigentlich kann ich den Zeitpunkt nicht mehr genau bestimmen. Ich habe halt weniger und weniger gegessen, weil ich mich für zu fett empfand. Mein Spiegelbild war mir unerträglich." Mit dieser verzerrten Körperwahrnehmung ist sie nicht alleine. Viele junge Menschen sind während des Heranwachsens höchst kritisch sich selbst gegenüber. Diese Selbstkritik betrifft ihr Aussehen, ihre Leistungen und ihr Verhalten. Sie wollen perfekt sein. Das vorherrschende Modediktat trägt einen Gutteil dazu bei, dass sich Essstörungen entwickeln können. Ein instabiles Umfeld kann dann dazu führen, dass die Essstörung einen chronischen Verlauf nimmt. Einen Ausweg aus diesem Teufelskreis bietet die Wohngruppe KAYA.
Große Schwester
Seit 2010 werde im Diakonie Zentrum Spattstraße junge Menschen mit unterschiedlichen Formen von Essstörungen in zwei Wohngruppen betreut. Bei den Hopi-Indianern bedeutet KAYA "große Schwester"“ und in diesem Sinn werden die BewohnerInnen sozialtherapeutisch begleitet. Ein Expertenteam aus SozialpädagogInnen, DiätologInnen, TherapeutInnen und ÄrztInnen unterstützt die Betroffenen. Rund um die Uhr ist jemand da.
Schritt für Schritt sollen die Muster eines selbstverletzenden Essverhaltens abgebaut werden. Nach durchschnittlich 1,5 Jahren intensiver Begleitung sollen die jungen Menschen wieder alleine oder bei den Eltern wohnen können. Ein gesundes Essverhalten wird durch gemeinsames Lebensmittel kaufen, kochen und essen eingeübt. "Ein positives Körperbild von sich zu entwickeln, Selbstbewusstsein aufzubauen, gute Strategien für den Umgang mit den eigenen Emotionen kennen zu lernen – das wollen wir gemeinsam mit den jungen Frauen erreichen", erzählt Psychologin Evelyn Blanka-Klimstein.
"Ich bin nicht allein"
Evelyn Blanka-Klimstein ist die fachliche Leiterin der Wohngruppen KAYA und hat gute Erfahrungen damit, auch die Eltern bzw. Angehörige in die Behandlung mit einzubeziehen. "Eltern und/oder PartnerInnen leiden mit. Sie möchten unterstützen. Oft haben sie schon alles probiert und trotzdem half nur wenig. Familien werden durch regelmäßige Gespräche einbezogen und in einer eigenen Angehörigengruppe unterstützt."
Birgit stellt ihren Teller zurück in die Küche und sucht sich im Wohnzimmer einen gemütlichen Platz auf dem Sofa. Gemeinsam mit den anderen BewohnerInnen und der Betreuerin folgt nun eine halbe Stunde Entspannung in Form von Spielen, Entspannungsübungen oder einfach nur Plaudern. Sie ist zuversichtlich, dass sie bald so weit ist, ihren Körper besser annehmen und ihr Leben positiver gestalten zu können: "Das regelmäßige Essen fordert mir alles ab, aber ich spüre auch, dass ich mithilfe der Unterstützung hier dranbleiben kann. Die Gemeinschaft tut mir einfach gut. Ich bin nicht allein."
Das Projekt ist beispielgebend für die Arbeit der Diakonie. Spenden kommen daher der gesamten Arbeit der Diakonie zugute.
In der WG KAYA wurden seit 2010 mehr als 100 junge Menschen betreut; rund ein Viertel von ihnen kommt aus anderen Bundesländern als Oberösterreich.