Lost in Transition? Zur Situation junger Erwachsener mit Fluchterfahrung
- Story
Derzeit leben mehrere tausend junge Erwachsene mit Fluchtbiographie ohne familiäre Netzwerke in Wien. Genaue Zahlen zu ihrer Lebens- und Wohnsituation fehlen. Ein Großteil von ihnen ist männlich. Der öffentliche Diskurs über diese Bevölkerungsgruppe ist geprägt von Vorbehalten und Vorurteilen. Sie werden von Boulevard-Medien als Bedrohung und Sozialschmarotzer dargestellt und mittlerweile auch von einem großen und weiter steigenden Anteil so wahrgenommen. Zu einer gelingenden Integration kann ein derartiges gesellschaftliches Klima nicht beitragen. Im Gegenteil: verbale rassistische Übergriffe im öffentlichen Raum, fehlende soziale Anbindung an autochthone non-formale Strukturen wie Sport- und Kulturvereine, Patenfamilien, Buddys und nicht zuletzt Diskriminierungen am Arbeits- und Wohnungsmarkt führen zu einer weiteren Ausgrenzung.
Wie neu geboren
Flucht und Ankommen in Österreich sei wie „neu geboren“ werden, benennen es viele Betroffene in Beratungsgesprächen. Und diese zwei Wörter versinnbildlichen ihre Situation vielleicht nahezu perfekt. In ihnen steckt all die Hoffnung auf einen Neubeginn: der Chance sich ein Leben in Würde in Österreich aufbauen zu können fernab von Krieg und Verfolgung, geprägt von menschenrechtlichen und demokratischen Standards. Oft wird diese Hoffnung durch die Umstände in Österreich enttäuscht. Neu geboren werden, bedeutet aber nicht nur eine neue Chance zu erhalten, es bedeutet auch vieles von Beginn an neu zu lernen: eine Sprache, eine Schrift, gesellschaftliche Regeln, Normen, Werte und Codes im zwischenmenschlichen Kontext und im Umgang mit Behörden. Und dies alles in der Lebensphase der Jugend bzw. des jungen Erwachsenenalters, die schon in einer stabilen Lebenssituation viele Entwicklungsherausforderungen mit sich bringt, deren Bewältigung sich maßgeblich auf die weitere Persönlichkeitsentwicklung auswirken.
Wie diese zwei aufeinandertreffenden Herausforderungen bewältigt werden können, hängt nicht nur von der individuellen Motivation und den Vorerfahrungen der Betroffenen ab, sondern auch von der Unterstützung und den Chancen, die sie durch sozialstaatliche Angebote und von der Zivilgesellschaft erhalten.
Herausforderungen…
Ali* hatte bisher wenig Unterstützung: Er ist 2022 mit 17 Jahren nach Österreich geflüchtet und kam für einige Monate in ein Erstaufnahmezentrum. Danach war er bereits volljährig, weshalb er einer Grundversorgungsunterkunft in einem aufgelassenen Gasthof in einem kleinen Dorf zugewiesen wurde. Dort wohnte er für fast ein Jahr gemeinsam mit einigen anderen Männern unterschiedlichen Alters. An diese Zeit erinnert sich Ali nicht gerne. Da er sich noch im Asylverfahren befand, durfte er nicht arbeiten. Ein Deutschkursbesuch in einer nahegelegenen Stadt scheiterte allein schon an der Nicht-Verfügbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel. Berater:innen kamen zwar ab und zu vorbei und waren telefonisch erreichbar, vor Ort gab es allerdings keine Ansprechpersonen. Auch die Dorfgemeinschaft reagierte mit Skepsis, Kontakt gab es deshalb kaum.
Zum Nichtstun gezwungen, erinnerte er sich in Gedankenkreisen immer wieder an seine Erfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht. Nach einiger Zeit wurde ihm Subsidiärer Schutz zugesprochen. Ali dachte, dass er nun endlich in Österreich durchstarten kann. Er war voller Motivation Arbeit zu finden, einen Deutschkurs zu besuchen, rasch zu lernen und später eine Ausbildung zu machen. Diese Hoffnung wurde jäh enttäuscht. Ohne Deutschkenntnisse fand er keine Arbeit und aus diesem Grund auch keine Wohnung. Da Ali nicht länger ohne Aussicht auf Besserung im Grundversorgungsquartier bleiben wollte, entschied er sich dazu nach Wien zu übersiedeln. Er hatte dort Bekannte, die ihm zusicherten, dass er bei ihnen eine günstige Wohnmöglichkeit bekommen könnte. Dieser Wohnplatz stellte sich als Matratze in einem 20qm-Zimmer gemeinsam mit drei anderen heraus. Monatlich musste Ali dafür EUR250 bezahlen. Der junge Mann war enttäuscht, frustriert und verzweifelt. Doch so schnell wollte er nicht aufgeben. Er war fest entschlossen, seine Lebenssituation zu verbessern. Bekannte erzählten ihm, was er tun musste, um einen Platz in einem Deutschkurs zu erhalten und wie er finanzielle Unterstützung bekommen kann. Ali hatte nun viele Behördengänge zu erledigen. Zur einen Beratungsstelle sollte er, um Grundversorgungsgeld zu beantragen, zum Sozialamt um Mindestsicherung zu beantragen, zum AMS um sich arbeitssuchend zu melden und zum ÖIF für die Zuweisung zu einem Deutschkurs. Wenn alles bearbeitet sei, würde er dann insgesamt EUR866,88 monatlich erhalten oder mit Platz in einem Deutschkurs EUR1155,84.
Als er all diese Wege erledigt hatte, hieß es zunächst allerdings mehrere Wochen warten. Für rund zwei Monate hatte Ali keinerlei Geld zur Verfügung. Er war darauf angewiesen, dass Bekannte für ihn sorgten. In dieser Zeit ging Ali viel spazieren, um sich zumindest etwas zu beschäftigen. Dabei kam er in Kontakt mit Personen, die Cannabis konsumierten. Ali probierte es und bemerkte, dass damit sein Gedankenkreisen weniger schlimm war. Es half ihm zur Ruhe zu kommen. Er fing deswegen an regelmäßig zu konsumieren. Als er nach einigen Wochen einen Deutschkurs erhielt, hatte er das Gefühl, dass er ohne Cannabis-Konsum nicht funktionieren kann. Das Problem war: mit gelang es ihm auch nicht. Immer wieder kam er zu spät in den Deutschkurs. Als ihm das zu peinlich wurde, ging er gar nicht mehr hin. Beim nächsten Deutschkurs, den er begann, war es ähnlich. Dies brachte ihn auch in finanzielle Schwierigkeiten, da für den Bezug von Sozialleistungen eine Mitwirkung beim AMS Voraussetzung ist. Aufgrund seines Scheiterns im Deutschkurs beschloss Ali Arbeit zu suchen. Mittlerweile konnte er ein bisschen Deutsch und fand eine Stelle als Reinigungskraft in einem Hotel. Dort übernahm er bereitwillig auch spontan eingeteilte Zusatzdienste und machte viele Überstunden, die ihm nie ausbezahlt wurden. Als es nach einigen Wochen aufgrund der Sprachbarriere zu einem Missverständnis bezüglich seiner Arbeitszeiten kam, wurde er fristlos entlassen. Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte er in dem kurzen Zeitraum noch keinen erworben. Das Sozialamt forderte Lohnzettel, der ehemalige Arbeitgeber reagierte jedoch nicht auf seine Anrufe diesbezüglich. Hinzu kam, dass sein Vater im Herkunftsland krank war und Ali eigentlich gehofft hatte, seine Familie mit seinem Erwerbseinkommen unterstützen zu können. Ali war ein weiteres Mal enttäuscht, frustriert und verzweifelt. Davon, dass andere Geld damit verdienten, dass sie Drogen verkaufen, wusste Ali und er überlegte, es genauso zu machen. Sein älterer Bruder, der in Belgien lebt, brachte ihn in langen Telefongesprächen von dieser Idee ab. Stattdessen beschloss Ali nun endlich zu dieser einen Beratungsstelle zu gehen, von der ihm ein Kollege aus dem Deutschkurs erzählt hat. Da ihm dieser Schritt schwerfällt, wird er einen Freund mitnehmen. Diesmal möchte Ali wirklich durchstarten und er hofft dort die Unterstützung zu finden, die er dafür braucht.
…und Chancen
Ganz anders ist es Hassan* ergangen: Er ist 2015 als 16-Jähriger nach Österreich gekommen. Nach einigen Monaten im Erstaufnahmezentrum wurde er in einer Wohngemeinschaft für Fluchtwaisen in Wien untergebracht. Relativ rasch erhielt er in einer regulären AHS einen Platz in einer der Übergangsklassen, die damals für junge Geflüchtete geschaffen wurden. Er lernte schnell und schaffte den Übergang in eine reguläre AHS-Klasse. Vermittelt über eine Beraterin in seiner WG kam er in Kontakt mit einer Patenfamilie. Als er volljährig wurde, erhielt er die Möglichkeit in eine Grundversorgungsunterkunft mit Schwerpunkt auf junge Erwachsene zu übersiedeln und als er mit 19 Jahren seinen positiven Asylbescheid erhalten hat, konnte er in eine betreute WG für asylberechtigte, junge Erwachsene ziehen. Dort lebte Hassan zwei Jahre, schaffte in der Zeit seine Matura und fand kurz darauf eine eigene kleine Wohnung. Drei Jahre später ist er erwerbstätig im Sozialbereich, studiert Lehramt und spricht fließend Dialekt. Hassan lebt damit mittlerweile ein Leben, dass sich kaum von „erfolgreichen“ Gleichaltrigen unterscheidet. Möglich wurde seine Erfolgsgeschichte durch seine Motivation. Aber auch dadurch, dass er seit seinem Ankommen in Wien durchgängig eine gesicherte Wohnsituation hatte, sowie ein Beratungsangebot, dass auf seine Bedürfnisse als Jugendlicher bzw. junger Erwachsener eingehen konnte, eine rasche, altersgerechte und inklusive Bildungsteilhabe und mit seiner Patenfamilie ein familienähnliches Umfeld. All diese Faktoren gemeinsam haben zu seiner Stabilisierung und zur Förderung seiner gesellschaftlichen Teilhabe beigetragen.
Derart förderliche Rahmenbedingungen in den Bereichen Wohnen, Beratung, Bildungs- und Arbeitsmarktteilhabe, sowie gesellschaftliche Integration bräuchten alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Fluchterfahrung, um sich möglichst rasch in Österreich zu stabilisieren und sich ein eigenständiges, unabhängiges Leben aufzubauen. Es gibt allerdings zu viele, die darauf nicht zurückgreifen können und sich in Situationen wie jene von Ali wiederfinden.
*Namen und Fallgeschichten sind so anonymisiert, dass sie nicht auf Einzelpersonen zurückgeführt werden können.
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Text von Marion Hackl, Einrichtungsleiterin KARIBU – Wohnplätze für junge Erwachsene mit Fluchtbiographie des Diakonie Flüchtlingsdienst. Quelle: umbruchstelle.at
KARIBU
Junge Erwachsene mit Flucht- oder Migrationsbiographie haben es am Wiener Wohnungsmarkt schwer und sind häufig von Wohnungslosigkeit oder prekären Wohnformen betroffen. KARIBU bietet Plätze in Wohngemeinschaften für die Zeit von maximal 24 Monaten. Während dieser Zeit werden die jungen Erwachsenen beraten und in ihrer Zukunftsplanung unterstützt.