Junge Menschen brauchen Zeit und Zuwendung
- Story
Gabriele Pessl, Sozialforscherin am Institut für Höhere Studien, im erklärt im Interview, wie sich aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen auf das Leben von jenen jungen Menschen auswirken, die nicht auf Rosen gebettet aufwachsen können.
Was bedeutet Jugendalter und wann sind junge Menschen heutzutage „erwachsen“ und was heißt es eigentlich dann, erwachsen zu sein.
Kindheit und Jugend ist ein Konstrukt, das in einer Gesellschaft definiert wird und wonach dann gehandelt wird. Es ändert sich auch im Lauf der Jahrzehnte, wann jemand erwachsen ist oder wird. Und es ist auch zwischen Gesellschaften verschieden. Die Jugend ist jedenfalls eine Phase des Übergangs. Es geht um das Hineinwachsen ins Erwachsenenalter. Und im Lauf der Zeit, im Lauf des Aufwachsens ändern sich die Erwartungen der Gesellschaft, des Umfelds an den jungen Menschen, an das Selbständig-Werden. Die jungen Erwachsenen werden langsam aber sicher zuständig für den eigenen Lebensunterhalt und sind weniger von der vorhergehenden Generation abhängig.
Den Begriff „junge Erwachsene“ gibt es auch noch nicht so lang. Dahinter steht vielleicht die Absicht eine Position „dazwischen“ zu schaffen, um mit dem Problem umzugehen, dass die Lebensläufe in den letzten Jahrzehnten vielfältiger geworden sind, und der erste Einstieg in Beschäftigung heute auch viel schwieriger geworden ist.
Ein Jugendforscher aus Australien hat aber auch festgestellt: es sind die neuen Klassenunterschiede zwischen Jugendlichen, die klarmachen, ob sie die Möglichkeit haben, dass sie schon relativ früh selbständig leben können, oder ob sie weiterhin bei den Eltern leben müssen, weil der Wohnraum so teuer ist. Andere Jugendliche müssen hingegen früh arbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragen. Das selbständig-Werden hat also auch viel mit Armut zu tun.
Kommen wir zum Thema Bildung, Ausbildung und zur Phase des Einstiegs in den Beruf. Was sind da ihre Beobachtungen aus Ihrer Forschung, aus den Interviews mit jungen Leuten?
Insbesondere in der Forschung zu Schulabbrüchen und Ausbildungsabbrüchen rechnen wir „Jugend“ bis 24 Jahre. Klar ist jedenfalls: das, was früher eine „normale“ Bildungs- und Arbeitsbiographie war, ist heute sehr viel vielfältiger geworden. Bis in die 1980er Jahre waren es die Phasen von primärer Ausbildung, mit deren Ende der Eintritt in die Beschäftigung erfolgte, und diese Phase dauerte dann ein Leben lang.
Heutzutage sind diese Phasen nicht mehr so klar abgegrenzt und wiederholen sich auch. In einem Leben gibt es mehrere Phasen von Beschäftigung und Weiterbildung.
Und man kann sagen, dass sich in den vergangenen 30 Jahren die Situation für diejenigen Jugendlichen beim Einstieg in die Arbeit bzw. Berufsausbildung verschärft hat, die ohnehin schon Nachteile erfahren haben.
Welche Unterstützung brauchen Jugendliche mit Blick auf Schule, Ausbildung? Was soll man ihnen geben?
Jugendliche, die schwierige Erfahrungen machen mussten, bräuchten einen Blick auf sie in ihrer gesamten Lebenssituation. Diese Prozesse: wie gelingt eine Bildungslaufbahn und der Übergang ins Erwachsenenleben und der Einstig in den Arbeitsmarkt? - hängt von vielen Faktoren ab.
Junge Menschen brauchen Zeit und Zuwendung. Die Schule kann psychische Probleme nicht lösen. Berufsorientierung hilft nicht, wenn Jugendliche Gewalterfahrungen machen. - Letztlich ist es die Person in ihrem gesamten Lebenskontext, die betroffen ist, und der es gelingt oder nicht gelingt beruflich gut zu starten und sich zu stabilisieren.
Bei der Begleitung von jungen Menschen ist das Verknüpfen aller Bereiche sehr zentral. Es geht nicht nur um Informationen - das ist auch wichtig, daran kann’s auch scheitern -, aber viel wichtiger ist eine umfassende Begleitung und sind bestärkende Erfahrungen. Personen, die sie stärken, die sagen, dass ich was kann, dass ich was wert bin, dass meine Zukunft wichtig ist.
Gibt es staatliche Unterstützungen damit junge Menschen den Einstieg in die erste Beschäftigung, „in den Beruf“ schaffen?
Ja, innerhalb der letzten 10 – 20 Jahre in Österreich sind einige Unterstützungsangebote für diese „Übergänge“ von der Ausbildung in den Beruf dazugekommen. Und dem eher noch jungen Gesetz der Ausbildungspflicht wird mit diesen Unterstützungen zur Umsetzung verholfen.
Können Sie das genauer erklären?
Für Jugendliche ab ihrem 9. Schuljahr gibt es sogenannte Jugendcoaches. Sie sind an Schulen, aber auch Vereinen, Jugendzentren etc. angedockt und gehen auf jene jungen Menschen zu, die drohen aus der Schule oder Ausbildung rauszufallen. Das Konzept umfasst sowohl Bildungsberatung und Berufsorientierung, als auch eine gute individuelle Begleitung, damit entweder der Schulabbruch nicht passiert, oder nach dem Schulabbruch ein neuer Weg in eine Ausbildung gelingt.
Sie arbeiten an den Schnittstellen zwischen Schule, Familie und auch der Kinder- und Jugendhilfe. Sie vermitteln in Psychotherapie, begleiten zu Ausbildungsprojekten, und versuchen den Ausbildungsweg möglichst ganzheitlich zu unterstützen. Die Begleitung entspricht also dem Ansatz, die unterschiedlichen Systeme, in denen sich die jungen Menschen wiederfinden, zusammenbringen.
Kann man sagen, dass auf Jugendlichen in Österreich ein hoher Druck lastet?
Ja, und ich denke diese Unterstützungssysteme sind auch eine Antwort darauf, dass es seit den späten 90er Jahren zunehmend schwieriger geworden ist, eine Ausbildung zu machen, in die Berufswelt einzusteigen, und eine Stabilität zu finden im Berufsleben. Und das erzeugt Druck für die Jugendlichen.
Was man außerdem sagen muss: Viele Unterstützungsangebote, insbesondere existenzsichernde Angebote wie Wohngemeinschaften für Jugendliche, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen können, enden bald nach dem 18. Lebensjahr. Das heißt: was bis 18 nicht gelungen ist, wird mit zunehmendem Alter schwieriger, weil es weniger Unterstützung gibt. Und das, obwohl sie sehr notwendig wäre. Ich würde sagen, die neue Realität findet sich in den Unterstützungssystemen noch nicht wieder.
Und noch eines ist recht bedeutsam: Es gibt zwar sogenannte „Second Chance Angebote“ – also die Möglichkeit, später einen Pflichtschulabschluss nachzuholen, oder einen Lehrabschluss am 2. Bildungsweg zu machen, aber der Begriff „2.Chance“ zeigt auch, dass es nicht unbegrenzt Chancen gibt. - Und das erzeugt wieder Druck, wenn die Jugendlichen sehen: Wenn ich die 2. Chance jetzt nicht ergreife, falle ich raus und bekomme keine Unterstützung mehr.
Was machen schwierige Erfahrungen mit jungen Menschen?
Wir haben in einer Studie mittels biographischer Interviews herausgefunden, dass es 2 Muster gibt: Die einen, die schwerwiegende negative Erfahrungen gemacht haben, haben das so erlebt, dass für ihre Bedürfnisse kein Platz war und sie wenig Handlungsmacht hatten. Für diese Jugendlichen war es dann sehr schwierig, in Beschäftigung einzusteigen.
Andere Jugendliche, mit ähnlichen Erfahrungen haben das so erlebt, dass sie stärker geworden sind. Sie haben es geschafft, in schwierigen Situationen Verantwortung zu übernehmen und sehr vernünftig zu handeln. - Und sie konnten das dann beim Berufseinstieg sogar nutzen.
Wo sind die Grenzen des Unterstützens?
Ich denke hier kommt es sehr auf die Art und Weise der Begleitung an. Und die gelingenden Beispiele zeigen, dass es sehr wichtig ist, den jungen Menschen mit Respekt für ihre Schwierigkeiten zu begegnen, und sie sehr individuell zu unterstützen.
Jugendcoaches berichten uns, dass die allermeisten Jugendlichen froh darüber sind, dass sie jemanden haben, der sich um ihren Weg annimmt.
Wie kommen junge Menschen dann in ihren ersten Job, wie funktioniert Berufsorientierung?
Es gibt die einen, die einfach einen Job annehmen, um Geld zu verdienen. Eine Zeit zu überbrücken. Für andere ist das Thema sehr zentral für ihr Leben: Berufswahl und Entscheidung ist eine Identitätsfrage. Was passt zu mir? Was macht mich aus? Wer bin ich, wenn ich diesen Job mache? Diese Jugendlichen hinterfragen dann auch vieles.
In der Corona-Krise ist erstmals klar geworden, dass psychische Belastungen bei der Jugend in Österreich ein großes Problem sind.
Ja, die Zahlen aus 2020 sprechen da eine sehr deutliche Sprache. Die Donau Uni Krems hat Ende 2020 öffentlich gemacht, dass 50% der Jugendlichen unter psychische Belastungen leiden. Aber die Zahlen sind aber auch schon vor Corona angestiegen.
Ein Wort noch zum Bildungssystem?
Dazu möchte ich sagen, dass in unseremBildungssystem vor allem die Übergänge im Hinblick auf Sprache, Behinderung, und andere Herausforderungen, die junge Menschen einfach mitbringen zu wenig inklusiv sind. Unser System wird den vielfältigen Bedürfnissen und Problemlagen nicht mehr gerecht.
Ich verstehe Inklusion eher generell so, dass ein System offen ist, und dass Platz ist und Raum, um mit den Schwierigkeiten umzugehen, die da halt sind.
Damit es echte Chancengleichheit geben kann, reicht es nicht, wenn einem grundsätzlich alles offen steht. Es geht sehr viel auch um die nötige Unterstützung, und dass diese für alle in gleichem Maß da sein muss. - Und da ist Österreich kein Vorzeigeland. Bei uns sind es immer noch die Eltern, die für den Bildungserfolg der Kinder maßgeblich sind. Es gibt in Schulen wenig Unterstützungspersonal, es gibt wenig Raum für die, die andere Voraussetzungen mitbringen. Also zu wenig Schulsozialarbeit, zu wenige Schulpsycholog:innen, und auch wenig Jugendcoaching.
Also was ich sagen will: das Bildungssystem müsste viel offener sein für die verschiedenen Lebensrealitäten. Stattdessen ist alles sehr normiert und eng.
Gabriele Pessl forscht seit 2009 am Institut für Höhere Studien zu Themen wie Schulabbruch, und „2.Chance-Angeboten“. Sie arbeitet aktuell an ihrer Doktorarbeit, in der es um Biographien von „early school leavers“ geht.
Das Interview ist erschienen im Print Magazin "Diakonie Themen" im November 2021. (unten zum Download)
Das Magazin zeigt auf, welchen Herausforderungen junge Menschen aktuell begegnen und was die Covid-Pandemie mit jungen Menschen macht.
Autor:innen
Dr.in Roberta Rastl-Kircher
KommunikationPressesprecherin & Medienarbeit