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- Story
Nataliias Fluchtgeschichte
Bei Amike, einer Einrichtung der Diakonie, besuche ich eine Frau, von der viele nur die Stimme kennen: Nataliia Nakazna arbeitet in der telefonischen Beratungsstelle Amike seit über 4 Monaten. Dort berät sie als Psychologin Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund, die in einer akuten Krise stecken und bietet Hilfe bei psychosozialen Belastungen. Bei Amike arbeiten vorwiegend krisenerfahrende Psychotherapeut:innen, die zuhören und verstehen - anonym und in verschiedenen Sprachen. So wie Nataliia, sie spricht Ukrainisch, Russisch und mittlerweile auch ganz gut Deutsch. Krisenerfahren ist Nataliia auch, nicht nur wegen ihrer psychologischen Arbeitserfahrung, sondern vor allem, weil sie den Ukrainekrieg und seine Folgen am eigenen Leibe erleben musste.
Sie flüchtete mit ihrer Familie kurz nach Kriegsausbruch von Kiew zunächst nach Deutschland und dann weiter nach Österreich. Sie weiß sehr genau, wie es sich anfühlt, wenn man in einer tiefen Krise steckt und sich ohnmächtig fühlt. Mit ihrem 10-jährigen Sohn und ihrer 19-jährigen Tochter suchten sie Unterschlupf bei ukrainischen Freunden in Berlin. Ihr Mann und ihr ältester Sohn (28) blieben in der Ukraine. „Ich habe am Anfang nichts gesprochen, ich war depressiv und konnte gar nichts machen - wie in einem Schockzustand. Es war schwierig für uns alle, auch für meine Freunde, denn sie waren komplett hilflos, das machte ihnen Angst! Deshalb gingen wir weiter nach Österreich, wo meine Schwägerin mit ihrem Mann lebte. Das war im März 2022.
Ich habe die Entscheidung getroffen in einem friedlichen Land zu leben, auch wenn wir alle viel aufgeben mussten.
Ihr Mann wollte für sein Heimatland da sein und blieb in der Ukraine. Der älteste Sohn ist ein erfolgreicher Ingenieur und wollte seinen Job nicht verlieren, er arbeitet heute noch immer in der Ukraine. „Noch hat er keinen Einberufungsbescheid als Soldat bekommen“, freut sich seine Mutter. „Doch wir beten fast täglich, dass er niemals diesen Brief bekommt!“.
Nataliia erinnert sich genau an die ersten Tage ihrer Flucht: „Krieg ist etwas Furchtbares! Wir sind mitten in der Nacht von Kiew abgereist. Das war für uns die erste Gelegenheit aus der Stadt rauszukommen. Zuvor waren noch alle Straßen heillos verstopft. In der Anfangspanik sind wir zu unserer Dacia (=Ferienhaus), etwa 100 km außerhalb von Kiew, gefahren. Es ist ein ganz kleiner Ort, doch inzwischen war er voll von Waffen und Panzern. Ich fühlte mich dort so bedroht und konnte weder essen, trinken noch schlafen. Mein Körper funktionierte nicht mehr richtig, es fühlte sich an, als wäre ich gelähmt.“
Daraufhin fuhr die Familie weiter nach Lemberg, um ihre 19-jährige Tochter abzuholen. Die Fahrt ging vorbei an unzähligen Militärkontrollen und Stützpunkten. „Wir konnten vom Auto aus beobachten, wie sich das Land binnen kürzester Zeit von einem friedlichen Ort in ein Kriegsgebiet verwandelte“, erzählt die ausgebildete Psychologin.
Dann war es Zeit, Abschied zu nehmen: „Wir fuhren Richtung Busbahnhof und kauften Tickets für meine Tochter, meinen Sohn und mich. Am Weg dorthin drehte ich mich im Auto nochmals um und machte mit meinem Handy ein Foto von meinen Kindern auf der Rückbank. Sie zeigt es mir und holt tief Luft: „Ich machte dieses Foto, weil ich nicht wusste, ob wir uns jemals wiedersehen werden.“ Sie kann für einen Moment nicht sprechen, einige Tränen kullern über ihre Wangen. Auch ich bekomme feuchte Augen und wir schweigen zusammen für einige Minuten…
Dann stieg Nataliia mit ihren zwei Kindern in den Bus, zu einer Reise ins Ungewisse, doch immer mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Sie winkte ihrem Mann und ihrem erwachsenen Sohn in die dunkle Nacht hinaus, die hinter der Glasscheibe standen. Weiter hinten am Horizont sah man, wie sich furchteinflößende Mengen an militärischer Ausrüstung auftürmten.
Der Weg in die Freiheit, in den Frieden!
Die Straße zur polnischen Grenze war klein und es gab einen ewig langen Stau, sicher mehr als 20 km und nichts bewegte sich. Manche stiegen aus und gingen zu Fuß weiter. „Für uns war es gut, dass wir im Bus waren und nicht im eigenen PKW, denn die bekamen zuletzt Benzin. Die Busse hingegen durften vorfahren und tanken“, berichtet Nataliia.
Sie erinnert sich auch an eine große Welle der Hilfsbereitschaft: „Am Wegesrand standen ukrainische Leute, die für uns in großen Töpfen gekocht haben, damit wir was Warmes zu Essen hatten.“ Nach zwei Tagen und zwei Nächten, am 28. Februar 2022 erreichten sie dann endlich Polen: „Ab da war dann alles sauber, die Straßen waren eben, es gab keine Staus mehr und es wurden Trinkwasser und Sandwiches verteilt. Alles war plötzlich schön!“, so war zumindest ihr erster Eindruck von einer friedlichen, sicheren Umgebung. Doch der Frieden war rein äußerlich, innen drinnen herrschte bei allen Geflüchteten das reinste Gefühlschaos.
Nataliia erzählt, dass es einige Zeit gedauert hat, bis sie fähig war in Österreich zu arbeiten. Die Anfangszeit, bis sie sich auch emotional sicher fühlte, dauerte lange. Zu belastend waren die Erlebnisse, zu stark die Traumatisierung. Doch ihre Arbeit bei der Diakonie ist ihr sehr wichtig und hat ihr auch aus der Krise herausgeholfen. „Denn wenn ich andere helfe, fühle ich mich stärker. Das ist eine Situation, bei der ich etwas unter Kontrolle habe. Ich habe außerdem eine gute Coping-Strategie: ich lerne gern Neues. Wenn ich das tue, habe ich schnell kleine Erfolge und empfinde mich als selbstwirksam“, erzählt sie weiter.
Derzeit lernt sie gerade zwei Mal die Woche Deutsch auf B2-Niveau. Ihren ersten Deutschkurs hat sie in der St. Nepomukkirche im 2. Bezirk absolviert. „Ich bin den Leuten dort noch heute sehr dankbar, sie haben uns so freundlich aufgenommen, Roswitha Feiger und Lydia von Webern-Auerbach waren in dieser Zeit zwei besonders wichtige Stützen. Nur während des Deutschkurses fühlte ich mich gut, sonst war der Start in Wien sehr schwierig für mich.“
Sie fühlte sich sehr schlecht, wollte nur zuhause bleiben, war depressiv und musste Medikamente nehmen. Die ständigen Sorgen über ihre Kinder begleitete sie. Eine regelmäßige Online-Psychotherapie hat ihr geholfen, sich wieder zu stärken. Nataliia ist so froh, dass diese Zeit der Vergangenheit angehört. Ihr Sohn geht hier in Österreich in eine katholische Privatschule in die 4. Klasse, ihre Tochter lebt mittlerweile in der Schweiz, lernt Französisch und bereitet sich auf die Uni vor.
„Als es auch mir besser ging, hab ich meinen Lebenslauf geschrieben und mich beworben. Gleich beim 1. Versuch habe ich zwei Angebote bekommen. Eines davon von der Diakonie!“ Sie ist sehr glücklich bei Amike zu arbeiten, vor allem die Beratungs-Tätigkeit mit den Klient:innen macht ihr Freude, einziger Nachteil: „…dass der Kontakt derweil nur telefonisch ist. Ich habe schon als Kind gern meinen Puppen verschiedene Charakteristika zugeschrieben und ihre Persönlichkeit untersucht“, lacht Nataliia heute.
Bei Amike weiß Nataliia genau, wie sie helfen kann, da sie selbst Ähnliches erlebt hat. Ich frage sie, wie ihr eine gesunde Abgrenzung zu den Klient:innen gelingt, so dass ihre eigenen Wunden nicht immer wieder aufgerissen werden: „Das funktioniert gut, ich bin dann ganz in der Rolle der Psychologin und kann das gut trennen, das lernt man bei der Ausbildung.“ Sie ist Gruppentherapeutin, klinische Psychologin und wird demnächst ihre Ausbildung zur Traumatherapeutin für Kinder beenden.
Ein Beitrag von Heidrun Henke
AMIKE - Telefon
Das Amike Telefon ist ein Angebot des Diakonie Flüchtlingsdienstes. Es bietet Rat und Hilfe bei psychosozialen Belastungen. Krisenerfahrende Psychotherapeut:innen hören zu und verstehen, anonym und in den Sprachen Farsi/Dari, Arabisch, Kurdisch, Englisch, Deutsch, BKS, Russsich, Türkisch und Urkrainisch.