Hineinversetzt: Wie es Kindern geht, die im Rollstuhl sitzen
- Story
Im Kindergarten „Für Dich und Mich“ betreuet und fördert das Diakonie Zentrum Spattstraße insgesamt 46 Kinder. In zwei kleinen Integrationsgruppen mit je 15 Kindern und zwei heilpädagogischen Gruppen mit jeweils acht Kindern fördern wir die emotionale, soziale und motorische Entwicklung der Kinder im Alter von zweienhalb bis sechs Jahren. Seit Herbst 2010 bieten wir den ersten integrativen Bewegungs-Kindergarten als Pilotprojekt in Oberösterreich an.
Eric ist sechs Jahre alt. Seit Geburt sind seine beiden Beine gelähmt (Pelizaeus-Merzbacher-Syndrom). Er sitzt im Rollstuhl. Eric ist eines der 15 Kinder in der Integrations-Gruppe des Kindergartens für Dich und Mich im Diakonie Zentrum Spattstraße. Für die anderen Kinder ist oft schwer zu verstehen, warum Eric nicht auf den Turm klettert oder genauso wie sie die Rutsche im Garten runterflizt. Heute dürfen die Kinder selber einmal ausprobieren, wie es ist, sich mit dem Rollstuhl fortzubewegen.
Rund um einen Tisch fahren, sich die Hände waschen, eine Türe auf und zu machen, ein Glas Wasser vom Wachbecken zum Tisch transportieren, im Garten auf der Wiese oder dem Schotterweg fahren, der leicht bergauf und wieder bergab führt – das sind die Herausforderungen, die die Kinder im Rollstuhl bewältigen sollen. Claudia Narovnigg, Leiterin des Kindergartens: „Wir wollen den Kindern helfen, zu verstehen, wie es jemandem geht, der im Rollstuhl sitzt. Wie fühlt es sich an, sich nur mit Hilfe des Rollstuhls fortbewegen zu können? Warum braucht man da mehr Platz oder mehr Zeit? Heute haben die Kinder die Gelegenheit, das ganz praktisch zu erfahren.“
Begleitet werden die Kinder von einem Profi. Richard Schaefer (56) sitzt nach einem Verkehrsunfall seit 11 Jahren im Rollstuhl. Er lässt die Kinder überlegen, warum jemand einen Rollstuhl braucht. „Weil man die Füße nicht spüren kann“, „weil man nicht laufen kann“ oder „weil man die Füße oder die Hüfte gebrochen hat“ sind sich die Kinder einig. Richard erzählt den Kindern von Erkrankungen im Gehirn, in der Wirbelsäule oder an den Muskeln, die zu Lähmungen führen. Über die Firma Baar hat er zwei Kinderrollstühle organisiert. Nach einer kurzen Erklärung der Stühle dürfen die Kinder abwechselnd Aufgaben bewältigen. Sie sind sehr konzentriert und ausdauernd dabei.
„Der Teppich stört“ sagt Luca. Ein paar Meter versucht Selina gerade, den Tisch zur Seite zu schieben, damit das Tischbein nicht im Weg ist. Ella stöhnt: „Ich hab’ geglaubt, das ist leicht, aber das ist anstrengend.“ Richard Schaefer engagiert sich ehrenamtlich für Menschen im Rollstuhl. Er will seine Ausbildungen in Pflege und Therapie sowie seine Erfahrungen anderen zugänglich machen. Dass er bisher noch nicht mit Kindern gearbeitet hat, merkt man ihm nicht an. Ella tippt mit dem Zeigefinger vorsichtig auf sein Bein: „Spürst Du das wirklich nicht?“ fragt sie. „Nein“ sagt Richard. „Das ist wie bei Eric“, meint Ella und nickt nachdenklich.
Ungewöhnlich lange sind die Kinder aufmerksam dabei. Sie werden nicht müde, mit dem Rollstuhl zu fahren oder die anderen Kinder dabei genau zu beobachten und ihnen Tipps zu geben. „Bremse nicht vergessen“ meint Selina zu Luca, der gerade versucht, sich im Rollstuhl sitzend ein Glas Wasser einzuschenken. „Ach ja genau“ ruft er aus und greift zur Bremse des Rollstuhls, der ihm gerade wieder nach hinten davongerutscht wäre, als er sich nach vorne beugen wollte. „Im Klo ist es eng, hast Du das bemerkt?“ fragt er Selina nach einem kräftigen Schluck aus dem Glas.