"Für mich ist es eine echte Welt, mit echten Gefühlen"
- Story
Seelsorge für Menschen mit Demenz
Wenn Anna Kampl die Wohn- und Pflegeeinrichtung in der Erdbergstraße im 11. Wiener Gemeindebezirk betritt, weiß sie oft nicht, was sie an diesem Tag erwarten wird. Ob jemand verstorben ist oder Geburtstag feiert, fröhlich gestimmt oder traurig ist: Die Seelsorgerin muss sich spontan auf Situationen einstellen. Das gehört, wie man es heute wohl nennen würde, zu ihrer zentralen Jobbeschreibung. Eines ist gewiss: Diesen Beruf könnte nicht jede:r ausüben. Es braucht Einfühlungsvermögen und ein gehöriges Stück "Diakonie", also gelebte Nächstenliebe. Aber vor allem auch: Anpassungsfähigkeit und unkonventionelles Denken.
Der heutige Gottesdienst findet auf der Terrasse statt. Corona hat auch in dieser Hausgemeinschaft den offenen Umgang untereinander lange Zeit erschwert. Als die Corona- Maßnahmen verhängt wurden, war es auch Anna Kampl eine Zeit lang nicht erlaubt, die Bewohner:innen zu besuchen. Vereinsamung und eine rapide Verschlechterung des Zustands vor allem bei Menschen mit Demenz führten aber dazu, dass wichtige Schlüsselpersonen wieder Besuche wahrnehmen konnten.
Ein Gefühl für den Glauben
Etwas ist anders an diesem Gottesdienst. Es sind kurze Geschichten aus der Bibel, kurze Impulse, bekannte Texte, die in möglichst großen Buchstaben ausgedruckt wurden. Alte Lieder, die langsam, ohne Hektik vorgetragen werden. Anna Kampl weiß, worauf man achten muss, damit auch Menschen mit Demenz erreicht werden. "Der persönliche Segen ist eigentlich das Wichtigste. Wo ich sie berühre und wie. Es geht nicht darum, komplizierte Texte oder lange Predigten vorzutragen, sondern ein Gefühl für den Glauben zu entwickeln." Auch die Mitarbeiter:innen selbst stellen sich heute bei Anna Kampl an, um den Segen zu erhalten. Es herrscht eine besondere Stimmung.
Den Glauben spürbar und erlebbar machen, darum geht es Kampl in ihrem ganzen Tun. Ob es Menschen sind, die in ihre Pfarre in Simmering kommen, oder Menschen, die aufgrund einer Erkrankung einem Gottesdienst in der klassischen Form nicht mehr folgen können: Vermittlung steht im Mittelpunkt. Mit Taten statt Worten. Kampl greift dabei auch zu extravaganten Mitteln: "Wir gehen beispielsweise hinaus in die Natur, wo ein Puppenspieler kurze Szenen aus der Bibel nachstellt, und anschließend lauschen wir den singenden Vögeln oder schauen den Eichhörnchen beim Spielen zu." Sinneseindrücke, die auch bei Menschen mit Demenz ankommen.
Der persönliche Segen ist eigentlich das Wichtigste. Wo ich sie berühre und wie.
Das Gestern ist verschwommen
In ihrer Tätigkeit als Seelsorgerin stellt sich Anna Kampl auf jede Situation individuell ein. Den Menschen verstehen und auf seine Emotionen eingehen ist für sie besonders wichtig. "Es braucht das richtige Bauchgefühl", erklärt Kampl, "und ein großes Maß an Empathie, um diesen Job ausüben zu können. Man könnte auch sagen: Es läuft nicht immer nach Lehrbuch ab." Gleichzeitig muss man auch über Demenz informiert sein. Betroffene erinnern sich zwar an ihre Jugendtage, aber nicht daran, was gestern geschehen ist. "Ich würde zum Beispiel nie fragen, ob heute die Tochter zu Besuch war", erklärt Kampl und relativiert: "Oft ist das auch gar nicht mehr so wichtig. Die Emotionen sind bei Menschen mit Demenz oft viel intensiver. Wenn man hier Freude erlebt, dann ist es einfach bereichernd. Sie zeigen mir, dass sie froh sind, mich zu sehen. Wenn jemand traurig ist, habe ich das Gefühl, dass er ehrlich traurig ist. Es ist eine ungekünstelte Welt mit echten Gefühlen." Obwohl es in ihrer Arbeit häufig um Abschied, Verlust und Trauer geht, ist Anna Kampl eines wichtig zu betonen: "Wir lachen auch viel. Während Corona haben wir Lieder aufgenommen und kleine körperliche Übungen dazu gemacht. Es gibt Leute, die kaum noch auf etwas reagieren, aber es gibt auch einige, die bei den alten Liedern plötzlich wieder ganz munter werden." Ganz vorne mit dabei übrigens: Lieder von Udo Jürgens.
Modell der Hausgemeinschaften
Mit den Hausgemeinschaften beschritt das Diakoniewerk als erster Anbieter in Wien einen neuen, alternativen Weg zu herkömmlichen stationären Wohnformen. Mit dem Modell der Hausgemeinschaften stehen Individualität, auf die jeweiligen Bedürfnisse orientierte Pflege und Betreuung sowie die Orientierung der Tagesabläufe „am normalen Leben“ im Vordergrund.