Ein Rezept gegen Einsamkeit - das Plaudertischerl der Diakonie
- Story
Gerade haben wir die Pandemie hinter uns gebracht, schon scheint unsere Gesellschaft an einer weiteren Krankheit zu leiden: Die Einsamkeit - ein unterschätztes Phänomen, das sich immer mehr als schleichende Epidemie bemerkbar macht, warnen manche Expert:innen.
Der deutsche Psychiater Manfred Spitzer hat diesem Thema sogar ein Buch gewidmet und bezeichnet Einsamkeit als: „Die unerkannte Krankheit“. Auch Forscher:innen sprechen vom Zeitalter der kollektiven Einsamkeit, in dem sich ein zutiefst menschliches Gefühl zur Krankheit auswachsen kann, mit psychischen wie physischen Folgen. Es kann zuweilen auch ernsthafte, gesundheitliche Folgen haben, wenn man sich chronisch einsam fühlt. Die Betonung liegt dabei auf „chronisch“, denn generell ist Einsamkeit ein Gefühl, mit dem jede:r zeitweise konfrontiert wird – zum Beispiel wegen eines Umzugs oder einer Trennung. Doch wer sich auf lange Zeit einsam fühlt, hat ein wesentlich höheres Risiko, an einem Herzinfarkt, Schlaganfall zu erleiden sowie an Depression oder Demenz zu erkranken. Man hat herausgefunden, dass Einsamkeit und Schmerz im selben Gehirnareal verarbeitet werden. Einsamkeit kann körperliche Schmerzen verstärken und umgekehrt. Beim Anblick eines liebevollen, nahestehenden Menschen, kann sich das Schmerzempfinden verringern. Man geht sogar davon aus, dass Schmerzmittel gegen Einsamkeit helfen.
Einsamkeit betrifft uns alle
Einsamkeit betrifft nicht nur ältere Menschen (über 40% der Bevölkerung lebt ab 65 Jahren allein), wie man glauben könnte. Eine Studie besagt, dass gerade die 18- bis 35-Jährigen sich besonders einsam fühlen. Ein 19-Jähriger versucht sein Gefühl von Einsamkeit so zu beschreiben: „Es ist ein bisschen so, als ob ich hinter einer Glasscheibe bin, dahinter stehen all die Menschen, die sich zusammentun und Spaß haben. Nur ich schaue alleine zu.“
Mit dem Plaudertischerl ins Gespräch kommen
Doch was ist Einsamkeit überhaupt? Die Psychologin Mareike Luhmann nennt es auch „die Diskrepanz zwischen zwischenmenschlichen Beziehungen, die man hat und die man sich wünscht“. Oft werden Einsamkeit und Alleinsein verwechselt. Alleinsein kann etwas Wunderbares sein, wenn man sich bewusst zurückzieht. Alleinsein ist der objektive Zustand, gerade niemanden um sich herum zu haben. Einsamkeit hingegen ist immer negativ behaftet und nicht freiwillig. Es geht vorwiegend um das Vermissen von qualitativen Beziehungen und Verbundenheit. Eine Möglichkeit, diese wieder herzustellen und zu fühlen, ist das Plaudertischerl. Damit wurde ein sehr niederschwelliges Angebot geschaffen, um sozialer Einsamkeit vorzubeugen und die Spirale der Isolation zu durchbrechen. Oft kommen Angebote unter dem Label „Einsamkeit“ nicht gut an, gerade weil für viele das Thema stigmatisierend und mit großem Schamgefühl verbunden ist. Deshalb ist das Plaudertischerl so angelegt, dass Menschen ohne große Hürde die Möglichkeit haben, auf freudvolle, einfache Weise zusammen zu kommen.
Lust auf Plaudern?
Beim Plaudertischerl geht es darum, in einem lockeren Gruppensetting seinen eigenen Horizont zu erweitern, sich auszutauschen, die Meinung anderer zu hören, weltoffen zu sein und Nachbarschaft zu pflegen. „Je gemischter die Teilnehmer:innen, desto fruchtbarer die Konversation. Das ist das Schöne am Plaudertischerl, seine Diversität“, berichtet die Projektleiterin Magda Vock. „Wir hatten mal bei einem Tischerl eine Altersspanne von 18 bis 75“, freut sich Magda. Das Plaudertischerl funktioniert unkompliziert, man braucht sich nicht anmelden oder abmelden und kann sogar über Zoom teilnehmen, wenn man nicht außer Haus gehen kann oder will. Denn es gibt sowohl die virtuellen Plaudertischerl als auch die Präsenztischerl im Café oder in Nachbarschaftszentren. „Ohne Konsumzwang, das ist uns wichtig“, erzählt Magda. „Denn auch Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben, sollen davon nicht ausgeschlossen werden.“
Mehr Daten, Zahlen und Fakten zum Thema Einsamkeit in Österreich:
Mehr erfahrenPlaudern per se ist einfach und sehr unkompliziert, jeder kann es und jeder will es.
Auch bei den Themen versucht man niemanden auszuschließen bzw. alle mitzunehmen. Deshalb werden Gespräche über Religion, Politik und Urlaube extra ausgeklammert. Moderiert wird das Plaudertischerl von Freiwilligen, die es anleiten, vorbereiten und ihm eine Form geben, sowie Themen vorschlagen.
Wie einsam bist Du?
Leider ist es schwierig zu erfassen, wieviele Menschen sich wirklich einsam fühlen. Die Dunkelziffer ist groß und Einsamkeit ist nichts, was sich an der bloßen Anzahl von Kontakten messen lässt, sondern vielmehr ein subjektives Gefühl, von dem man auch heimgesucht werden kann, wenn man sich in Gesellschaft von vielen Menschen aufhält, sogar unter Freund:innen oder mit dem/der Partner:in. In Großbritannien wurde beispielsweise ein Einsamkeitsministerium bestellt, um dem „Gesellschafts-Phänomen“ Einhalt zu gebieten. Dort klagen laut einer Umfrage neun Millionen Menschen über Einsamkeit. Das wirkt sich auch auf die Zukunft der Demokratie aus, so Expert:innen. Denn wer kein soziales Netz hat, wendet sich auch schneller von der Gesellschaft ab.
Wie Einsamkeit entsteht
Häufiger Arbeitsplatz- und damit verbundener Wohnortwechsel, prekäre Arbeitsverhältnisse und brüchige Familien, Trennungen und der Verlust von geliebten Menschen verstärken die Tendenz der Vereinzelung. Ob das durch oberflächliche Social-Media-Kommunikation ausbalanciert werden kann, bezweifelt der Psychiater Manfred Spitzer. Er sieht die Ursachen auch in der zunehmenden Digitalisierung und virtuellen Realität: „Wir sind perfekt vernetzt mit der ganzen Welt, können zu jeder Tageszeit via Posts und Videoschaltung am Privatleben anderer teilhaben und erleben ein scheinbares Zusammengehörigkeitsgefühl. Dennoch fühlen wir uns einsam und isoliert.“ Wahre Freund:innen lassen sich nicht durch 1000 Facebook-Freund:innen ersetzen und eine innige Umarmung in „real life“ niemals mit Emojis oder Likes kompensieren.“
Aber es gibt auch eine kulturelle Komponente der Einsamkeit. Wir leben in einer Gesellschaft, die Einzelgänger:innen „feiert“. Es geht nicht mehr um das Gemeinsame, sondern um das Individuelle, das Einzigartige. Dieses überhöhte Ideal der Individualisierung steht ganz im Widerspruch zu unserem Bedürfnis nach Verbundenheit und sozialer Einbettung.
„Jeder sehnt sich nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit und möchte Teil eines größeren Ganzen sein. Gerade in den städtischen Strukturen kann dies besonders schwierig sein“, erzählt die Projektleiterin des Plaudertischerls. „Mein Wunsch für die Zukunft wäre, dass das Plaudertischerl noch mehr Bekanntheit erlangt. Das Angebot darf wachsen und soll über das Tischerlszenario hinausgehen, z.B. in Form von gemeinsamen Ausflügen und Spaziergängen. Ich fände es schön, wenn sich dadurch Freundschaften oder Beziehungen ergeben. Dann heißt es in Zukunft vielleicht: „Wir haben uns nicht bei Tinder, sondern beim Plaudertischerl kennengelernt“, schmunzelt Magda.
Das Plaudertischerl
Das Plaudertischerl wurde im Frühjahr 2020 vom Diakonie Eine Welt Sozialdienst gegründet und ist angelehnt an das englische Model „The Chatty Cafe Scheme“. Die Idee war es, einen Raum für Austausch zu schaffen, neue Leute kennenzulernen (unabhängig von Alter, Herkunft oder Religion) oder einfach nur, eine gute Zeit zu haben und sich zu unterhalten. Das Angebot findet in Nachbarschaftszentren, in Lokalen und auch im virtuellen Raum statt.
Zur Website: https://www.plaudertischerl.at