Die Flucht der Familie C.
- Story
Alexandra C. sitzt auf ihrem Bett. Hinter ihr spielt der 7-jährige Jan mit dem Handy. Er sieht sich etwas an, das nach Kinderserie klingt, mit aufdringlicher Geräuschkulisse. Jan hat Autismus und tut sich manchmal schwer, ruhig und still dazusitzen. Alexandra ist den Handy-Krach scheinbar gewöhnt, sie verzieht keine Miene. Nur manchmal, wenn man die Dolmetscherin nicht versteht, sagt sie, er soll leiser machen.
„Wann habt ihr beschlossen, die Ukraine zu verlassen?“ Alexandra beginnt zu weinen. Ein Grund sei gewesen, dass Jans Kindergarten bombardiert wurde, mitten in der Nacht. „Das war der erste Schock“, sagt sie. Wäre der Angriff ein paar Stunden später erfolgt, wäre Jan nicht mehr hier. Das war Ende Februar, als der Krieg begonnen hat.
Alexandra und ihr Mann Ivan leben damals noch in der Stadt Charkiw, ein paar dutzend Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Nachdem Alexandras Heimatdorf zerstört und klar wird, dass in der Stadt gezielt zivile Objekte angegriffen werden, versteckt sich die Familie einige Tage lang im Keller eines der Lokale, die Ivan leitet. Von den Geschossen hört man dort anfangs nichts, doch sie kommen näher. So nahe, dass sie der Familie den Schlaf rauben. Irgendwann spürt man die Wände und den Boden des Kellers von den Bombeneinschlägen vibrieren. Da weiß Alexandra, dass sie Charkiw verlassen müssen.
„Jan hat uns sehr überrascht in der Zeit“, sagt Alexandra. Die Situation war für den Buben besonders belastend. „Wir haben versucht, unsere Ängste nicht auf das Kind zu übertragen, aber er hat so viel Mitgefühl gezeigt und alles verstanden.“ Wann die Eltern Angst hatten, wann er mitlaufen muss, wann er sich verstecken soll – Jan wusste instinktiv, was er tun musste.
Ukraine: Spenden, freiwillige Mitarbeit, Unternehmenskooperationen
Jetzt helfenBeschwerliche Flucht und helfende Hände
Die Eltern, Alexandras 74-jährige Großmutter Katharina, Jan und die Katze Bill reisen mit dem Zug zur Schwägerin nach Lwiw. Doch dort ist kein Platz, die Wohnung ist schon voll mit Menschen. Die Familie steigt wieder in den Zug, fährt nach Uschgorod, 30 Stunden braucht sie dafür. Von Uschgorod geht kein Zug weiter. Die Unterkünfte sind ausgebucht. Die Familie steigt in den Bus und überquert die Grenze zur Slowakei. „Eigentlich dürfen Männer, wenn Krieg im Land herrscht, nicht die Ukraine verlassen“, sagt Alexandra, „weil wir aber ein autistisches Kind haben, haben sie Ivan durchgelassen.“ Jans Autismus ist an diesem Tag vielleicht das größte Glück für seinen Vater.
Im slowakischen Strážske werden sie für zwei Tage von einer Familie aufgenommen. Lubasch und Vladka bieten in ihrem Haus mehreren Geflüchteten Unterkunft, haben extra Betten und Essen vorbereitet. Erstmals, nach mehrtägiger Fahrt in völlig überfüllten Zügen und Bussen, ohne einen Moment der Entspannung, kann die Familie dort ausschlafen, sich duschen und durchatmen.
Neuanfang in Wien
„Diese Leute sollten berühmt werden, sie haben so vielen Menschen geholfen“, sagt Alexandra. Die Helfer buchen ihnen sogar Zugtickets nach Bratislava. Von da werden Alexandra und ihre Familie von Ivans Cousine, die in einer Einzimmerwohnung in Wien lebt, abgeholt. Am 16.März kommen sie in Wien an. Nach zwei Wochen zu fünft in der kleinen Wohnung erfährt die Familie vom Aufnahmezentrum im Austria Center Vienna und erhält über die Wohnraumvermittlung der Diakonie diese Unterkunft, in der sich Jan gerade einen Keks von Oma aus der Küche holt.
Das Wichtigste sei jetzt, eine Schule für Jan zu finden, in der auf seine besonderen Bedürfnisse eingegangen wird, sagt Alexandra, um die Fortschritte, die durch zahlreiche Therapien in der Ukraine erreicht wurden, nicht wieder verfallen zu lassen. Das Zimmer, in dem sie sitzt, ist spärlich eingerichtet. Ein Doppel-, ein Kinderbett, ein Schreibtisch, zwei Kästen, eine Couch. Oma hat ein kleines Kabinett nebenan. Alexandra selbst würde die Schule für Jan Zeit verschaffen, für einen Deutschkurs und den Neuanfang. Momentan seien ihr wegen der Kinderbetreuung die Hände gebunden.
„Alexandra, was brauchst du noch, um gut anzukommen, wie kann die Politik, die Gesellschaft euch helfen?“ Alexandra denkt nach. Eigentlich sei ihr nicht wichtig, was sie von der Gesellschaft und von der Regierung bekommen kann, meint sie. Ihr sei wichtig, was sie zurückgeben kann. Sie habe so viel Unterstützung und Hilfe am Weg und hier in Österreich erfahren, dass sie momentan nur dankbar ist.
Flucht und Integration
Es hat in Österreich Tradition, Menschen auf der Flucht Schutz und Hilfe zu gewähren. Die Diakonie steht in dieser Tradition. Sie unterstützt Menschen auf der Flucht und hilft bei der Integration.