Corona-Krise: Ist Laufen überhaupt noch erlaubt?
- Story
„Ist Laufen überhaupt erlaubt?“ hört ein Freund ein Kind fragen, an dem er vorbei joggt. Ich lese Hass-Postings über „renitenten Alten“, die einkaufen gehen. Die Anzeigen von Bürgern, die der Polizei vermeintliche Verstöße melden, häufen sich. Und mit der Maskenpflicht wird sich das alles wohl noch verschärfen.
Etwas scheint gerade zu kippen: Die Frage, was erlaubt ist, hat die Frage, was gut und richtig ist, weitgehend abgelöst. Zeit, genau hinzusehen und Fragen zu stellen. Zeit für ethische Reflexion.
Ziel war, die Ansteckungskurve „abzuflachen“, Risikogruppen zu schützen
„Flatten the curve“ – das war das Motto, unter dem wir unser gesellschaftliches und persönliches Leben heruntergefahren und uns in die häusliche Isolation begeben haben. Mit dem Ziel, den Verlauf der Ansteckungen zu verlangsamen und unser Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Mit dem Ziel des Schutzes von Risikogruppen. Dazu wurden Regeln aufgestellt. Doch nun scheint sich das Ziel unserer Anstrengungen geändert zu haben.
Abstandhalten ist selbst zum Ziel geworden
Doch nun scheinen die Regeln selbst, die Isolation, das Abstandhalten ist zum Ziel geworden. Zu einem absoluten Ziel. - „Jeder kann Leben retten, wenn er sich an die Vorschriften hält“, lautete der Appell. Es kommt also auf das Verhalten jedes und jeder einzelnen an.
Doch scheint sich in vielen Köpfen der Umkehrschluss festgesetzt zu haben: Wer sich – scheinbar – nicht an die Regeln hält, gefährdet mutwillig Leben.
Dabei gerät dreierlei aus dem Blick:
- Erstens die Frage nach dem Kontext, der Situation, in der sich die vermeintliche Regelbrecherin befindet;
- zweitens die Frage nach der erlaubten Ausnahme, die es ja gibt;
- und drittens die Frage nach dem Prozess des Abwägens, der zu einer begründeten Entscheidung führt.
Die Fragen der „Verantwortungs-Ethik“ sollten auch in der Zeit der Krise maßgeblich für unser Handeln sein
Alle drei Fragen sind Kernelemente einer Verantwortungsethik, wie sie für uns Heutige, die wir in freien und demokratischen Gesellschaften leben, maßgeblich ist – und auch in Zeiten von Corona sein sollte.
Verantwortung übernehmen bedeutet in der Krise eine Herausforderung für alle
Güterabwägung und Übernahme von Verantwortung fordern sowohl Politiker und Politikerinnen heraus, die Regeln aufstellen und Ausnahmen von den Regeln definieren müssen, als auch die Bürger und Bürgerinnen, die überlegen müssen, wann es angezeigt ist, der Regel zu folgen, und eine Situation als Ausnahme betrachtet werden kann.
Es gibt Spielraum für die persönliche Verantwortung: Wir sollen den direkten Kontakt dort vermeiden, wo er nicht unbedingt notwendig ist – was bedeutet, dass notwendiger direkter Kontakt erlaubt ist. Auch Betreuung und Hilfeleistung von unterstützungsbedürftigen Personen sind weiterhin erlaubt.
Salopp gesagt: Es ist ein grundlegender Unterschied, ob jemand eine Corona-Party feiert oder mit einem Angehörigen mit Demenz spazieren geht.
Verantwortungsethik fordert uns auf, genau und sensibel auf die Situation zu schauen und Zurückhaltung gegenüber absoluten kategorischen Urteilen – auch in der Beurteilung anderer – walten zu lassen.
Das Ziel ist weiterhin: Das Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch bewahren.
Das Ziel bleibt richtig und wichtig: Das Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch bewahren und besonders Verletzliche schützen. Trotzdem müssen wir reflektieren:
Um welchen Preis? Was können wir dafür in Kauf nehmen? Ausgangsbeschränkungen, Isolation und Abstandhalten sind nichts Absolutes, sondern Ergebnis einer Abwägung. Diese ist von der Politik immer wieder neu vorzunehmen – und zwar nicht nur in Krisenstäben hinter verschlossenen Türen, sondern auch öffentlich, transparent, im Diskurs. Dann werden sich auch die Bürger und Bürgerinnen leichter damit tun, nach der Situation und den Umständen zu fragen, wenn sie meinen, einen Regelbruch zu beobachten.
Autor:innen
Pfarrerin Dr.in Maria Moser MTh
Direktion & GeschäftsführungDirektorin Diakonie Österreich