Bosnien: Flüchtlingsfalle Europas
- Story
Schauplatzwechsel
In der Nähe der bosnischen Stadt Bihac errichtet die EU in Lipa ein potemkinsches Dorf. Das Containerdorf macht einen guten Eindruck. Es gibt keinen Stacheldraht, angeblich haben die Menschen, die dort leben werden, auch jederzeit Ausgang. Verglichen mit anderen europäischen Flüchtlingslagern schaut das neue Camp in Lipa wirklich gut aus. Selbst im bisher belegten Teil des Camps gibt es Betten in beheizbaren Zelten. - Das ist besser zumindest als in den Hot-Spots auf den griechischen Inseln.
Allerdings muss für die Versorgung der Menschen dort erst recht wieder die Zivilgesellschaft aufkommen. Die Küche betreibt das bosnische Rote Kreuz, das aber keine staatliche Unterstützung erhält und auch keine Unterstützung durch die EU-Kommission.
Im neuen Camp in Lipa hat die deutsche Auslandshilfe eine moderne Küche und Kantine fertiggestellt. Bei unserem Besuch waren alle Anlagen aufgrund mangelnder Anbindung an das Stromnetz ungenutzt.
Lipa ist bestenfalls ein Ort zum Überwintern. Es ist in the “middle of nowhere”. Wer versuchen will, über die Grenze im Norden nach Europa weiterzukommen, wird immer wieder versuchen müssen, sich in Grenznähe aufzuhalten. Und sich bei nächster Gelegenheit wieder ins „Game“ begeben.
Kroatien ordnet die Pushbacks systematisch an
Neben dem fehlenden Asylsystem in Bosnien bleibt das größte Problem aber wohl das Verhalten der kroatischen Regierung, die die Pushbacks offensichtlich nicht nur zulässt, sondern anordnet. Die Flüchtlinge berichten, dass sie gern Asylanträge in Kroatien stellen wollen. - Wenn sie das jedoch dort äußern, werden sie nur noch härter geschlagen.
Das scheint sehr systematisch zu sein und es erreicht teilweise die Intensität von Folter, jedenfalls unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Alle persönlichen Gegenstände werden abgenommen, das mitgeführte Geld gestohlen, Kleidung, Schuhe, Handys abgenommen und oft anscheinend an Ort und Stelle verbrannt.
Man muss dort auch nicht lange suchen, um aus Österreich „gepushbackte“ Personen zu finden. Das dürfte sehr regelmäßig vorkommen, auch wenn der Großteil es halt nicht so weit schafft.
Für die Flüchtlinge gibt es aber keine Perspektive, in Bosnien zu bleiben. Sie sind gezwungen, es immer wieder zu versuchen doch noch über die Grenze zu kommen.
Was es dringend bräuchte
Es bräuchte dringend einen Humanitären Korridor nach Österreich und in andere EU-Länder, oder zumindest ernsthafte Bemühungen Europas, in Bosnien ein funktionierendes Asylsystem aufzubauen, und den Menschen dort eine Perspektive zu geben.
Die Haltung der EU-Kommission ist diesbezüglich unverständlich. Sie geht nicht gegen die rechtswidrigen Pushbacks Kroatiens vor. Wenn aber gewollt ist, dass die Flüchtlinge in Bosnien bleiben, brauchen sie dort eine Perspektive. Die Renovierung des Lagers Lipa alleine, ist jedenfalls keine. Und: Nicht für alle dort gestrandeten Flüchtlinge ist das Ziel ihrer Flucht die EU. Sie würden auch gerne in Bosnien leben, wenn sie eine Perspektive hätten. Doch dafür bräuchte es ein funktionierendes Asylsystem, das ihnen ein Leben in Sicherheit ermöglicht.
Zusätzlich muss jedoch das europäische Recht gewahrt bleiben: Das heißt, wenn Menschen an der Grenze zur EU einen Asylantrag stellen wollen, muss es ein Recht auf ein faires Asylverfahren geben.
Update:
Am 29.11 haben wir erfahren, dass das Wilde Camp in Velika Kladuša am 24. November von der bosnischen Spezialpolizei geräumt und niedergebrannt wurde.
Das hier verlinkte Video zeigt die Situation an den im Text beschriebenen Orten im vergangenen Winter (Videosprache: italienisch - trotzdem äußerst sehenswert!).
Es ist einfach erbärmlich, dass wieder ein Jahr vergangen ist, und sich an der Situation der Menschen einfach nichts verändert hat.
Von 4. bis 8. November 2021 waren wir gemeinsam mit anderen NGO VertreterInnen unterwegs in Bosnien und an der nördlichen Grenze zu Kroatien. Dort sitzen Geflüchtete sprichwörtlich in der Falle: Für Menschen, die dort gestrandet sind, gibt es kein Vor und kein Zurück. Denn: Asylanträge können nur innerhalb von 14 Tagen nach der Einreise gestellt werden. Das weiß aber niemand. Und so haben in den 7 Jahren seit 2014 nur 122 Personen Schutz erhalten, davon nur 9 (!) Asyl.
Deshalb sitzen an der nordbosnischen Grenze Menschen, die - wären sie in der EU - mit ziemlicher Sicherheit Anspruch auf internationalen Schutz hätten. Unter ihnen sind viele Afghanen, aber auch Menschen aus Syrien und anderen Krisenregionen im Nahen Osten. Das hier oft kolportierte Bild, wonach in Bosnien fast ausschließlich alleinstehende Männer zu finden wären, ist falsch.
Das hier oft kolportierte Bild, wonach in Bosnien fast ausschließlich alleinstehende Männer zu finden wären, ist falsch.
In einem unwegsamen Gebiet an der Grenze zu Kroatien besuchen wir das offene „Jungle Camp“ in Velika Kladuša. Es steht auf einem Feld inmitten des Ortes, 100 Meter vom Busbahnhof entfernt. Wir finden dort Familien mit kleinen Kindern, genauso wie alte und kranke Menschen.
Einige Tage vor unserem Besuch wurde das Camp - wie auch schon viele Male davor - geräumt, mit Baggern dem Erdboden gleichgemacht. Die Menschen wurden in ein Camp nach Sarajewo gebracht. Manche von ihnen haben es geschafft, sich in der Umgebung im Wald zu verstecken.
Die meisten wollen nämlich unmittelbar wieder zurück in das Camp, weil Velika Kladuša sehr in Grenznähe ist. Bei unserem Besuch waren rund 25 Familienzelte (Plastikfetzen auf Holzstöcken) und rund 12 Singlezelte/Igluzelte zu sehen.
Die Zelte wurden auch langsam wieder mehr, bis zum Tag unserer Abreise. Es ist quasi täglich ein Kommen und Gehen. Die Geflüchteten nennen es selbst „the Game“, wenn sie versuchen, die kroatische EU-Grenze zu überwinden. Sie erleiden dabei aber immer wieder Pushbacks. Das heißt, sie werden mit Gewalt von Kroatien zurück nach Bosnien getrieben. Dann ruhen sie 2 Tage aus und gehen erneut los. Wir haben dort Menschen getroffen, die das „Game“ bereits über 30-mal hinter sich hatten.