An der Grenze - Nothilfe in Rumänien
- Story
„Eine Stunde hatten wir, um zu packen“, sagt Mikola. Er ist mit seinen zwei Töchtern und drei kleinen Enkelkindern aus Charkiw geflüchtet. Wir sitzen im Wohnzimmer von Cristinas Haus am Rande von Radauti, einer Kleinstadt nahe der Grenze zwischen Rumänien und der Ukraine. Seit 20 Tagen ist Mikola jetzt hier, wartet auf ein Visum für Kanada, wo seine Söhne sind.
Mikola erzählt von den Bomben. Was bedeutet Würde jetzt für ihn? frage ich. Da hellt sich Mikolas Miene plötzlich auf. Lächelnd schaut er zu Kristina. „Dass es jemanden gibt, dem es nicht egal ist, was mit dir passiert“, sagt er.
Während wir reden, füllt sich das Wohnzimmer mit immer mehr Kindern und ihren Müttern. 22 Geflüchtete haben bei Cristina Unterschlupf gefunden. „Natürlich nehme ich Menschen auf“, sagt sie, „ich habe Platz.“ Essen für so viele Menschen, das kann sich Cristina allerdings nicht leisten. Hier hilft AIDrom, eine ökumenische Hilfsorganisation und Partnerorganisation der Diakonie, die ich Ende März besucht habe. Mitarbeiter:innen von AIDrom organisieren alles, was gebraucht wird – von Kartoffeln und Kaffee über Windeln bis hin zu Arztbesuchen. Auch Kosten für Strom und Heizung übernimmt die Hilfsorganisation, damit Cristina die Geflüchteten beherbergen kann.
Dana und Emanuel von AIDrom fahren mit mir zum Grenzübergang zwischen der Ukraine und Rumänien in Siret, von dem in den Medien öfters zu hören ist. AIDrom und Freiwillige der Pfarrgemeinde waren die ersten, die vor Ort waren, um zu helfen. Mittlerweile sind alle präsent: Behörden, Polizei, Feuerwehr, internationale Hilfsorganisationen, verschiedene Kirchen und Religionsgemeinschaften. Die Nothilfe hier ist voll ausgebaut. Es gibt alles: medizinische Versorgung, Feldbetten zum Ausruhen, Busse für die Weiterfahrt. Zelt an Zelt haben sich die Hilfsorganisationen aufgestellt, bieten Tee und Essen an.
Anders an den drei kleineren Grenzübergängen, zu denen wir weiterfahren, über die Menschen kommen, die via Moldau aus der Ukraine geflüchtet sind. Hier stehen nur das Willkommenszelt von AIDrom und Freiwillige der Pfarrgemeinde, 24 Stunden nonstop. Jede:r Einzelne, der:die über die Grenze kommt, braucht Unterstützung – auch wenn derzeit nur zehn bis zwanzig Autos am Tag über die Grenze kommen. Unsere Partner helfen auch im hintersten Winkel, sie sind da und bleiben, auch abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit und der Kameras. Sie helfen mit Essen und Getränken, Hygieneprodukten und Windeln, Sim-Karten fürs Handy und Spielsachen für die Kinder – aber auch mit Informationen und Hilfe für die Weiterreise. „Wir fragen die Leute, was sie brauchen. Ansonsten lassen wir sie in Ruhe“, sagt Emanuel, Mitarbeiter von AIDrom und rumänisch-orthodoxer Priester. „Sie nicht das Gefühl haben, behandelt zu werden, sondern handeln zu können.“ Dana zeigt mir Gutscheine: „Damit kaufen die Geflüchteten, was sie wollen. Selber zu entscheiden, was ich esse, das hat was mit Würde zu tun“, erklärt sie.
Was mir besonders auffällt: An allen vier Grenzübergängen, die ich besuche, tun Priester Dienst, erkennbar an ihren schwarzen Soutanen. „So sehen die Menschen gleich, dass wir von der Kirche sind, das weckt Vertrauen“, meint Emanuel. „Mir ist es auch wichtig, ein spirituelles Angebot zu machen. Aber ich sage den Leuten nicht, dass alles gut wird. Wir wissen nicht, ob alles gut wird.“
Wenn die Geflüchteten diesseits der Grenze ankommen, ist jedenfalls gar nichts gut. Die Menschen seien orientierungslos, wüssten nicht wohin, sie wollten einfach nur weg. Unendlich viele Tränen fließen, erzählt Vater Constantin, Gemeindepfarrer in Radauti Prut, der mit Freiwilligen aus seiner Gemeinde Tag für Tag, Stunde für Stunde da ist am Grenzübergang. Was er tut in diesen verzweifelten Situationen, frage ich Vater Constantin. Ernst schaut er mich an. Dann verzieht er sein Gesicht zu einem breiten Lächeln und macht einen Schritt auf mich zu. Wortlos umarmt er mich.
In der Stunde, die wir mit Constantin verbringen, kommt kein Flüchtling an, den er umarmen könnte. Ende März ist es relativ ruhig an der Grenze. Noch wenige Tage zuvor mussten die Menschen ein bis drei Tage an der Grenze warten, wenn sie mit dem Auto kamen; wer zu Fuß kam, wartete 15 bis 20 Stunden auf den Grenzübertritt. Mögliche Gründe, warum jetzt weniger Menschen kommen: Die Flucht ist gefährlicher geworden. Menschen mit Auto sind bereits geflohen; ärmere Menschen haben es schwerer, die Flucht zu organisieren. Andere sind innerhalb der Ukraine geflohen, wollen das Land noch nicht verlassen.
„Wir fragen sie, was sie brauchen. Ansonsten lassen wir sie in Ruhe“,
„Wir sind jetzt an einem Wendepunkt“, erzählt Dana, Projektkoordinatorin von AIDrom. Lebensmittel, Hygieneprodukte und Decken reichen nicht mehr. Die Menschen müssen Entscheidungen über ihre Zukunft treffen, sie brauchen Beratung zur Perspektivenabklärung, vor allem auch Rechtsberatung, psychosoziale Unterstützung und Hilfe bei der Integration. Längerfristige Unterkünfte müssen entstehen. „It is very easy to bring food to people. It is much harder to help them with what to do next,“ sagt Dana.
AIDrom rechnet auch fix mit einer „dritten Welle“ an Grenzübertritten – und die Menschen, die noch flüchten werden, werden mehr Unterstützung brauchen. Menschen mit mehr Ressourcen haben sich schon außer Landes gebracht, die künftigen Flüchtlinge werden ärmer sein und schwerer gezeichnet von den Folgen des Krieges. Schon jetzt wird deutlich: Nach vier bis fünf Wochen Krieg haben die Menschen, die aus der Ukraine flüchten, höheren Hilfsbedarf. Sie waren länger und massiver der Gewalt des Krieges ausgesetzt, es kommen mehr Verletzte, auch mehr alte Menschen und Menschen mit gesundheitlichen Problemen und Behinderungen.
Dana und ihre Kolleg:innen brauchen einen langen Atem. Aber Dana weiß auch: Alle halten zusammen, Nachbar:innen, NGOs, Behörden… „This has never happened before“, sagt sie.
Autor:innen
Pfarrerin Dr.in Maria Moser MTh
Direktion & GeschäftsführungDirektorin Diakonie Österreich