ALTERnativen - Wir brauchen vielfältige Betreuungs- und Pflegemodelle für ein gutes Leben im Alter

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22. Juni 2023
Das Diakoniewerk stellte bei den 27. Diakonie-Dialogen am 22. Juni in der voestalpine Stahlwelt in Linz die Bedürfnisse und persönlichen Ressourcen in einer Gesellschaft des langen Lebens in den Mittelpunkt und zeigte auf, dass es zukünftig vielfältigere Betreuungsmodelle braucht, um von einem guten Leben im Alter sprechen zu können.

Neue Wege beschreiten für ein gutes Leben im Alter

Die Referent:innen des Tages waren sich einig: um die Pflege bedarfsgerecht und zukunftsfit aufstellen zu können, sollten neue mutige Wege hin zu mehr Autonomie und Selbstbestimmung beschritten werden. Wir müssen auf die Bedürfnisse blicken, müssen wahrnehmen und annehmen, dass die meisten Menschen zuhause alt werden wollen, selbst wenn der Alltag, bedingt durch Alter und Krankheit schwerer wird. Dieser Wunsch (zumal ökonomisch sinnvoll) darf nicht ignoriert werden und bedarf sowohl politischer als auch gesamtgesellschaftlicher Unterstützung.

Daniela Palk, Vorständin im Diakoniewerk, betonte in ihrer Eröffnungsrede die Notwendigkeit, an einigen Stellschrauben im österreichischen System zu drehen, um die Selbstbestimmung und die Teilhabe von älteren Menschen weiter zu stärken.

Wir müssen dem System eine völlig neue Gestalt geben, um einerseits die Herausforderungen, die uns in den nächsten Jahren noch stärker treffen werden, zu bewältigen und um andererseits der Verpflichtung, die wir als Gesellschaft des langen Lebens haben, älteren Menschen ein selbstbestimmtes und gutes Leben zu ermöglichen, nachzukommen. Dies braucht Mut und Kraft und bedeutet auch für uns einiges an Veränderung, aber es gibt ein buntes Potpourri an Alternativen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.

Daniela Palk, Vorständin im Diakoniewerk

Bedürfnisse im Mittelpunkt

Die Bedürfnisse der Menschen müssen dabei immer im Mittelpunkt stehen. Daher ist es unbedingt notwendig, Kund:innen und Angehörige in die Dienstleistungsentwicklung einzubeziehen.

Prof.in Dr.in Daniela Jopp von der Universität Lausanne brachte in diesen Zusammenhang ihre Erkenntnisse aus den von ihr durchgeführten Hundertjährigen-Studien ein. Ihr Einführungsvortrag beschrieb, wie sich die «Jungen-Alten» (65-79 Jahre) und die «Alten-Alten» (80+) hinsichtlich Herausforderungen, Ressourcen und psychologischen Eigenschaften unterscheiden, ging auf Umweltfaktoren ein, und erläuterte, was wir von Hundertjährigen lernen können. Fazit: Es gilt vor allem die psychische Gesundheit zu stärken und qualitätsvollen Beziehungen auszubauen, um Lebenssinn und -willen zu erhalten. Auch Leidenschaft spielt eine große Rolle bei Menschen im hohen Alter. Für ein Thema zu brennen und auch noch die Möglichkeit zu haben, diese Passion ganz lange ausleben zu können, hält einen «jung».

Beteiligung aller Betroffenen

Ulrike Kremer-Preiß stellte "Wohnen 6.0 - mehr Demokratie in der (institutionellen) Langzeitpflege" des Kuratorium Deutsche Altenhilfe vor. In ihrem Beitrag wurden die aktuellen Strukturen in der Pflege kritisch beleuchtet und konkrete Vorschläge für eine Demokratisierung der Sorgearbeit gegeben. Ihr Apell: In Möglichkeiten, statt in Begrenzungen denken, um neue und innovative Lösungen für die zukünftige Pflege zu finden. Menschen beteiligen, mitreden und mitgestalten lassen. Dies erhöhe einerseits die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden in der Pflege, trägt zu mehr bürgerschaftlichem Engagement bei und schenkt Menschen im Alter mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.

Der Nonntaler Weg

Ein Praxisbeispiel dazu lieferte der Impuls von Alexander Buchbauer, DGKP und Astrid Kent, DGKP.

Der Neubau des Seniorenwohnhauses Nonntal in Salzburg lieferte den Anstoß, auch beim Organisations- und Führungsmodell neue Wege zu beschreiten. Hierbei wurde viel Wert auf wertschätzendes Feedback und die Abschaffung von Hierarchien gelegt. Eine zentrale Säule der selbstorganisierten Teams ist die konsequente Beteiligung von Betroffenen in Entscheidungs- und Veränderungsprozessen. Ganz nach dem Motto „Niemand ist so klug wie wir gemeinsam“. Welchen Einfluss die neue Arbeitsweise auf die Lebensqualität der Bewohner:innen und die Arbeitsqualität der Mitarbeitenden hat, berichten Buchbauer und Kent.

 

Neue Modelle

Wie eine bedarfsgerechte Versorgung in Zukunft aussehen könnte, zeigte das Modellprojekt „QplusAlter“ der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg, welches von Julia-Christin Gaum präsentiert wurde. Im Bezirk Hamburg-Nord erprobt die Evangelische Stiftung Alsterdorf mit dem Modellprojekt QplusAlter, wie passgenaue und flexible Unterstützungsarrangements realisiert werden können. Sogenannte Lots:innen informieren, beraten und begleiten ältere Menschen mit Unterstützungsbedarf, sowie An- und Zugehörige und entwickeln gemeinsam ein individuelles Unterstützungssetting. Eine 2022 veröffentlichte Evaluationsstudie der Universität Duisburg-Essen zeigt: Der Ansatz wirkt. Die Lebensqualität und die Teilhabemöglichkeiten der älteren Menschen steigen.

Versorgungslücken werden sichtbar

Seit 2022 agieren Community Nurses, ähnlich wie die Lots:innen von QplusAlter, erfolgreich in mehr als 120 Gemeinden in ganz Österreich. In neun Regionen in Oberösterreich, Niederösterreich und Salzburg sind die Community Nurses des Diakoniewerks für Klient:innen und deren Angehörige völlig kostenlos aktiv und begleiten unter dem Motto „Alt werden, wie ich will“ ein selbstbestimmtes Leben.

Reinhold Medicus-Michetschläger und Community Nurse Vanessa Baumgartner gaben Einblicke in den täglichen Kontakt mit betroffenen Menschen im Alter und pflegenden Angehörigen. Sie sind sich einig:  Das Community Nurse Modell ermöglicht mehr Selbstbestimmung für Mitarbeiter:innen durch mehr Freiräume und das Ausschöpfen der fachlichen und persönlichen Kompetenzen. Es ermöglicht darüber hinaus vor allem den Kund:innen mehr passgenaue Unterstützung und vor allem Freiheit bei der Auswahl ihrer Hilfearrangements.

Mut für Veränderung

Um die aktuellen und zukünftigen Pflegeanforderungen bewältigen zu können, braucht es Rahmenbedingungen, die es zulassen, eine neue Betreuungsarchitektur zu gestalten und Freiheit, diese umzusetzen. Es braucht Mut, Zuversicht und vor allem den Veränderungswillen aller Beteiligten, um an den Stellschrauben des Systems zu drehen. Als Gesellschaft haben wir aber auch eine gemeinsame Verantwortung: ein würdiges Altern zu ermöglichen, abzusichern und vor allem positive Visionen des Alterns zu schaffen.

Die 27. Diakonie Dialoge haben einen breiten Bogen aufgespannt: es gibt sie – die Lebens- und Begleitmodelle für mehr Teilhabe im Alter und vor allem für mehr Lebensqualität – es gibt ALTERnativen – wir müssen als Gesellschaft, als Anbieter, als Entscheidungsträger mutig sein und dem System neue Gestalt geben. Jetzt.

Bild: v.l.n.r.: Vanessa Baumgartner, Ulrike Kremer-Preiß, Daniela Jopp, Alexander Buchbauer und Astrid Kent, Julia-Christin Gaum, Reinhold Medicus-Michetschläger, Daniela Palk, Dorothea Dorfbauer

Fotocredit: Mathias Lauringer/Diakoniewerk