Junge Menschen stärken
- Kommentar
Gute Jugendhilfe braucht einheitliche Standards
Für eine gute Jugendhilfe sind gleiche Standards vom Neusiedler- bis zum Bodensee Voraussetzung. In Österreich aber macht es einen Unterschied, wo ein Jugendlicher lebt. Die Hilfen unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. Seit die Zuständigkeit allein bei den Ländern liegt, kann sich die Kinder & Jugendhilfe bundesweit kaum noch weiterentwickeln. Dieser föderale Dschungel wurde mit einer speziellen Vereinbarung geschaffen, die den Status des Bundes-Jugendhilfegesetzes einfriert. Fortschritte sind nur möglich, wenn alle neun Bundesländer gemeinsam Verbesserungen zustimmen. Für einen solchen Prozess gibt es aber keinerlei festgelegte Strukturen. Es regiert der kleinste gemeinsame Nenner.
Jugendliche unter Druck
Jugendliche sind massiv unter Druck. Corona, Krieg, Teuerung, Klimawandel, Armut – eine Krise jagt die andere und nicht alle können das gut bewältigen. Manche sind verletzlicher und haben weniger Reserven. Angstsymptome, Schlafstörungen und depressive Verstimmungen sind auf dem Höchststand. Beengtes Wohnen und geringes Einkommen zu Hause verschärfen die Situation. Junge Leute brauchen Hilfe, wenn sie mit ihrem Alltag und sich selbst nicht mehr zu Recht kommen.
Im Gesundheitssystem und in der Prävention hierzulande gibt es große Herausforderungen und Lücken (Schenk, Martin; Wölfl, Hedwig (2022): Was Kindern jetzt gut tut. Gesundheit fördern in einer Welt im Umbruch, Wien).
Kinder mit Entwicklungsbelastungen muss ein kostenfreies, jederzeit zugängliches und bedarfsdeckendes Angebot an diagnostisch-therapeutischen Maßnahmen zur Verfügung stehen. Das beginnt bei der fachärztlichen wie therapeutischen Versorgung und den aufsuchenden Diensten, geht über spezialisierte Ambulatorien bis hin zur Kinder-Rehabilitation. In der Psychotherapie und psychologischen Behandlung gibt es weiter große Lücken und lange Wartelisten – die müssen wir schließen. Die Versorgungslücke liegt bei der Leistbarkeit, aber auch bei den langen Wartezeiten und der Mangelversorgung in ländlichen Regionen. Es geht also um kassenfinanzierte Psychotherapie, um bessere regionale Versorgung und um diversere Formen der Angebote: Primärversorgungszentren, regionale Therapiestellen oder mobile Teams.)
Frühe Hilfen zu Kinder-Hilfen weiterentwickeln
All das muss mit sozialer Infrastruktur kombiniert werden. Die frühen Hilfen sollten zu allgemeinen Kinder-Hilfen weiterentwickelt werden. Sie sollen stärken in schwierigen Situationen. Man setzt bei den Entwicklungsherausforderungen des Kindes an und baut die Unterstützungsmaßnahmen begleitend auf. Bei diesen verbundenen Präventionsketten greifen die einzelnen Ketten-Glieder verlässlich ineinander, damit die Kette nicht reißen kann. Der Begriff ist vielleicht ein wenig missverständlich. Es geht im Kern darum, Unterstützungsnetze zu mobilisieren, die sozialstaatlich, institutionell, in der Gemeinde und der Community zu finden sind. Die sozialen Dienstleistungen sind hier besonders bedeutsam. Statt ständiger Abgrenzungsversuche zwischen Jugend- und Wohnungslosenhilfe, zwischen Psychiatrie und Sozialarbeit, zwischen Cure and Care braucht es integrierte Systeme. Präventionsketten beginnen mit den Frühen Hilfen; sie arbeiten multiprofessionell, sozialräumlich und integriert.
Was Resilienz bedeutet
Resilienz heißt, widerstandsfähig sein. Das können wir brauchen. Jetzt in den vielen Krisen ist dieses Wörtchen in aller Munde. Aber in einer oft schädlichen Weise. „Mach dich resilient! Sei resilient! Bemüh dich, resilient zu sein!“ Das ist möglicherweise gut gemeint, aber ein Missverständnis. Resilienz ist keine Dimension individueller Leistungsfähigkeit - das belastet die Belasteten noch mehr. Das ist wie jemanden, den die Depression quält, zu sagen „Reiß dich zusammen!“. Wir wissen: das drückt die Person noch tiefer in den Strudel der Verzweiflung.
Einer der ersten, der sich mit Resilienz beschäftigte, Aaron Antonovsky, betonte, dass Resilienz stets mit gesellschaftlichen Bedingungen verbunden ist. Er nannte sein Konzept „Kohärenzsinn“, eine Fähigkeit mit der Welt in Beziehung zu sein. Keine Handlungsspielräume zu haben, weniger Anerkennung zu bekommen und von Dingen ausgeschlossen zu sein, über die andere sehr wohl verfügen, ist Ausdruck einer sozialen Krise, in der auf Dauer unsere Selbstwirksamkeit und unser Selbstvertrauen leidet. Handlungsspielräume zu erhöhen, hat mit dem Gefühl der Bewältigbarkeit einer Lebenssituation, dem „sense of manageability“, zu tun, - und stärkt die Widerstandskräfte.
So geht es bei Resilienz immer um die Erhöhung der „Verwirklichungschancen“ Benachteiligter, wie es die Philosophin Martha Nussbaum und Ökonom Amartya Sen formulieren. Kinder, die sich sicher fühlen in ihrer Beziehung zu Eltern oder einer Bezugsperson, sind neugieriger auf die Welt, lernen leichter und fürchten Herausforderungen weniger. Das sagt uns die Entwicklungspsychologie. Zu glauben, ein Kind baut Resilienz auf, wenn man sagt, „Sei stark! Sei widerstandsfähig!“, ist mehr als lächerlich. Dieses magische Denken aber durchzieht eine ganze Reihe von Texten zur Resilienz, die in den Krisen jetzt erscheinen. Resilienz braucht eben immer auch andere. „Aus sich selbst heraus“ funktioniert das nicht, das ist ein Beziehungsgeschehen. Und auch eine Frage der Institutionen. Ist die Schule stärkend oder beschämend für Kinder, wirkt das Arbeitsmarktservice stärkend oder schwächend? Wer Leute am Sozialamt bloßstellt, wer Arbeitslosenleistungen kürzt, wer mit erobernder Fürsorge Hilfesuchende entmündigt, der vergiftet diese Ressource.
Resilienz als einsames individuelles Leistungsprogramm misszuverstehen, belastet noch mehr und schadet. Wer Resilienz will, muss Jugendliche entlasten und stärken.
Gescheite Jugendhilfe zahlt sich aus
Man kann aus Menschenliebe oder Gerechtigkeitsvorstellungen für eine gescheite Jugendhilfe sein. Man kann aber auch rein ökonomische Argumente anführen. Mangelnde Hilfe erzeugt Kosten anderswo, wenn die Jugendlichen keinen Job finden, in schwierige Verhältnisse oder Kriminalität abdriften oder ein höheres Krankheitsrisiko entsteht. Auf gute Hilfe müssen benachteiligte Jugendliche ein Recht haben. Und das ist nicht dem Zufall ihrer Postleitzahl zu überlassen.
Autor:innen
Mag. Martin Schenk
Direktion & GeschäftsführungGrundlagen & Advocacy
Stv. Direktor | Sozialexperte Armut, Gesundheit, Kinder- und Jugendhilfe