Hohe Zahlen an Asylanträgen bedeutet nicht sofort Überlastung
- Kommentar
Innenminister Gerhard Karner ist aktuell in allen Medien zu Gast und warnt vor einer Überlastung des Asylsystems. Wir haben uns die Sache genau angesehen. Was dabei auffällt, ist, dass oft die falschen Fragen gestellt werden. Denn das Asylsystem ist nicht dafür gemacht, die fehlende Migrationspolitik Europas zu ersetzen. Eine solche wäre dringend nötig, insbesondere vor dem Hintergrund, dass in vielen Branchen zunehmend die Arbeitskräfte fehlen.
Hier also die aktuellen Fragen, und die Antworten, die im Rahmen der Kommunikationsoffensive des Innenministeriums nicht vorkommen:
Nein! Um festzustellen, ob eine Überforderung des Systems droht, darf man nicht nur auf die Asylantragszahlen schauen. Die sind wenig aussagekräftig, weil sie nichts darüber verraten, ob sich die Antragsteller:innen überhaupt noch in Österreich aufhalten.
Durch die recht intensiven Grenzkontrollen, die Österreich gerade an der Ostgrenze durchführt, sind Menschen zur Asylantragstellung gezwungen, die nie vorhatten, in Österreich ein Asylverfahren zu durchlaufen.
So dürfte es sich im Fall der derzeit vermehrt ankommenden Inder:innen, die aufgegriffen werden, in erster Linie um Arbeitsmigran:innen handeln, die beispielsweise nach Italien weiterziehen wollen. Sie hätten also, wären sie nicht aufgegriffen worden, keinen Asylantrag in Österreich, vermutlich aber auch in keinem anderen EU-Land gestellt.
Europaweit gibt es kaum Möglichkeiten für eine legale Arbeits-Migration. Auch eine dringend nötige gemeinsame europäische Zuwanderungspolitik gibt es nicht. Deshalb finden sich Migrant:innen, wenn sie bei der Einreise „illegal“ aufgegriffen werden, im jeweiligen Asylsystem wieder, obwohl sie eigentlich keinen Schutzbedarf haben, sondern eben in Europa arbeiten wollen.
Es gibt keinen Beleg dafür, dass derartige Kampagnen die erwünschte Wirkung haben. Wie auch? Österreich ist in den allerseltensten Fällen das „Zielland“ der Menschen auf ihrer Reise nach Europa. Die meisten Menschen in den Herkunftsländern kennen Österreich nicht. Viele haben Anknüpfungspunkte in größeren / „bekannteren“ europäischen Ländern.
Die richtige Frage wäre: Wer wird eigentlich aus Österreich abgeschoben?
Abschiebungen werden vom Innenministerium immer in Zusammenhang mit negativen Asylverfahren thematisiert. So entsteht eine gedankliche Verbindung von abgewiesenen Asylsuchenden und Abschiebung. Diese Verbindung ist aber falsch.
Hier wird nämlich ein kleines Verwirrspiel inszeniert, und das geht so: Es gibt relativ wenige Menschen mit komplett negativen Asylentscheidungen, die abgeschoben werden könnten.
Im ersten Halbjahr 2022 wurden zwar 1600 Menschen aus Österreich abgeschoben, 70 Prozent davon waren jedoch EU-Bürger:innen, die deshalb nicht in Österreich bleiben können, weil sie sich nicht selbst erhalten können, oder straffällig geworden sind.
Doch auch die anderen Länder, in die abgeschoben wird, sind keine klassischen Herkunftsländer von Flüchtlingen. So betreffen die meisten Abschiebungen in ein Nicht EU-Land Staatsangehörige aus Serbien.
Die seit Jahren größte Gruppe der Asylsuchenden in Österreich stammt aus Afghanistan, gefolgt von Flüchtlingen aus Syrien. Menschen aus Afghanistan erhalten aber spätestens seit der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 zu über 80 Prozent Schutz in Österreich. Bei Syrer:innen ist die Schutzquote sogar noch höher.
Immer wieder äußern österreichische, aber auch andere europäische Politiker die Idee, dass Asylverfahren außerhalb der EU durchgeführt werden sollen. Kann das gehen?
Nein. Österreich ist - genau wie alle anderen EU-Staaten - verpflichtet, Asylanträge, die innerhalb der EU, oder an den Grenzen gestellt werden, zu prüfen. Für die exterritoriale Prüfung von Asylanträgen außerhalb Europas gibt es keine rechtliche Grundlage.
Asylrecht ist nach wie vor eine nationale Angelegenheit. Daher stellt sich die Frage: wer sollte in Lagern irgendwo in Afrika nach welchem nationalen Recht Asylanträge prüfen?
Auch die Flüchtlingsorganisation der UNO (UNHCR) ist strikt gegen derartige Externalisierungs-Initiativen, die Asylsuchende zwangsweise in andere Länder verlegen.
„Externalisierung verlagert die Verantwortung für das Asylwesen einfach woanders hin, das Land entzieht sich internationalen Verpflichtungen. Solche Praktiken untergraben die Rechte derjenigen, die Sicherheit und Schutz suchen, dämonisieren und bestrafen sie und können ihr Leben in Gefahr bringen“, meint die stellvertretende UNHCR-Hochkommissarin, Gillian Triggs.
Nachdem Ungarn bereits mehrmals durch den Europäischen Gerichtshof (EUGH) wegen des rechtswidrigen Umgangs mit Asylsuchenden verurteilt wurde und diese Urteile ignorierte, hat im Jänner 2021 die Europäische Grenzschutzagentur Frontex ihre Tätigkeit in Ungarn eingestellt.
Ungarn führt seit 2016 groß angelegte illegale Pushbacks durch. Im Jahr 2021 wurden an der serbisch-ungarischen Grenze mehr als 71.000 Menschen rechtswidrig zurückgewiesen.
Die NGO SOS Balkanroute berichtet von menschenverachtenden Horror-Bildern serbischer Polizeieinheiten entlang der EU-Außengrenzen. Der serbische Innenminister Aleksandar Vulin erklärte im Juli 2022 vor der Presse, Serbien sei „kein Parkplatz für Abschaum aus Asien". Auf Fotos sind dabei hunderte Männer zu sehen, die auf Befehl die Arme über den Kopf halten, gebeugt gehen und schlussendlich vor Vulin, der den Einsatz in einer schwarzen Uniform begleitete, auch noch knien.
Das österreichische Innenministerium hat angekündigt, die ungarische und serbische Polizei dabei zu unterstützen, eine "Task Force zur Schleppereibekämpfung" aufzubauen. Durch die beigesteuerte Einsatztechnik wie Wärmebildkameras, Geländefahrzeuge, Drohnen und Wärmebildbusse könne man bereits bisherige gemeinsame Einsätze „effektiver gestalten".
Bislang erfolgte keine Erklärung, wie sichergestellt werden kann, dass österreichische Beamte nicht in rechtswidrige Handlungen durch die ungarische oder serbische Polizei verwickelt werden.
Noch in den 1980er Jahren kamen etwa 90 Prozent aller Asylsuchenden legal nach Westeuropa, in die angestrebten Asylländer. Heute sind über 90 Prozent aller Asylwerber zur irregulären Einreise gezwungen. Sie flüchten über das Meer, über Flüsse oder kommen mit gefälschten Papieren per Flugzeug. In beinahe jedem Fall sind sie jedoch auf die Hilfe von bezahlten Schleppern oder Fluchthelfern angewiesen.
Viele Milliarden Euro werden europaweit zur Bekämpfung der irregulären Einwanderung, der organisierten Kriminalität, des Schlepperwesens investiert. Die Folge davon ist einerseits eine beinahe hermetisch abgeriegelte „Festung Europa", andererseits aber ein rasanter Anstieg der Schlepperkosten, da die höheren Sicherungshürden die Überwindung dieser „Festungsmauern" immer gefährlicher und damit auch für die Schlepper aufwändiger macht.
Wer Schlepperei effizient bekämpfen will, muss Möglichkeiten für eine legale Einreise schaffen
Das würde dem Geschäftsmodell der kriminellen Organisationen schlagartig die Basis entziehen. Das gilt sowohl für Menschen, die Schutz vor Verfolgung suchen, als auch für Menschen, die als Arbeitsmigrant:innen nach Europa einwandern wollen.
Für letztere können natürlich entsprechende Zuwanderungskriterien vorgesehen werden. Eine einheitliche Regelung für die EU Staaten wäre sinnvoll. Denn durch ein gemeinsames Migrationssystem in Europa könnte sichergestellt werden, dass Menschen, die als Arbeitskräfte zuwandern wollen, nicht weiterhin ins Asylsystem gezwungen werden und dort für die aktuell wieder behauptete „Überlastung“ sorgen.
Autor:innen
Mag. Christoph Riedl
Grundlagen & AdvocacySozialexperte Migration, Asyl, Integration, Menschenrechte