Sachleistungen statt Geld: Der Wahlkampf hat begonnen.

  • Analyse
05. Februar 2024
Flüchtlinge als Sündenböcke und Ausgangspunkt für eine postfaktische Schein-Debatte

Postfaktisch heißt, der emotionale Effekt einer Aussage ist wichtiger als ihr Wahrheitsgehalt. Die aktuelle postfaktische Aussage der ÖVP lautet: „Es ist nicht akzeptabel, dass Menschen unser System ausnutzen wollen, obwohl sie kein Recht darauf haben, in unserem Land zu sein“.

Weiter wird behauptet, Geflüchtete würden Geld aus Sozialleistungen nach Hause schicken. Wenn man ihnen also statt Geld nur mehr Sachleistungen gibt, kann man diese Praxis unterbinden.

Dazu passiert in der Debatte noch etwas: Es wird ein bewusstes Verwirrspiel gespielt zwischen der Sozialhilfe, die Flüchtlingen nach ihrer Asylanerkennung zusteht (weil sie dann österreichischen Staatsbürger:innen gleichgestellt sind), und den minimalen Beträgen der sogenannten „Grundversorgung“, die eine reine Basisversorgung für Asylwerber:innen während des Asylverfahrens sind.

Mit Postfaktisch-ismus Politik machen

Wir haben es in mehrfacher Hinsicht mit postfaktischer Politik zu tun:

  1. Hier wird emotionalisiert, indem Neid geschürt wird.
  2. Menschen, die in Österreich um Schutz ansuchen, haben das Recht, während des Asylverfahrens hier zu sein (und wenn das Verfahren positiv abgeschlossen wird, zu bleiben).  
  3. Menschen, die vor Verfolgung und Krieg fliehen, kennen die Sozialsysteme in den verschiedenen europäischen Ländern nicht. Und schon gar nicht das Unterbringungssystem während eines Asylverfahrens.
  4. während des Asylverfahrens bekommen Menschen bereits jetzt in erster Linie Sachleistungen (genannt „Grundversorgung“).

Zu Punkt 4. ein paar Details:

Asylwerber:innen werden entweder in Vollversorgungsquartieren untergebracht (= Sachleistung) und bekommen pro Monat 40 Euro Taschengeld für persönliche Bedarfe wie Hygieneprodukte oder Fahrscheine. Oder es wird im Quartier nicht gekocht, dann bekommen sie Lebensmittelgeld in der Höhe von 6,50 pro Tag um sich selbst versorgen zu können, plus das genannte Taschengeld von 40 Euro pro Monat.

Und dann gibt es noch eine dritte Form: Asylwerber:innen können sich mit Erlaubnis mancher Bundesländer in privaten Wohnungen einmieten und dort selbst versorgen. Hier ist ein geringes Wohngeld (165 Euro/Monat für eine Einzelperson, max.330 Euro/Familie) und Lebensmittelgeld (260 Euro pro Erwachsene Person/Monat (=8,30 Euro/Tag), 145 Euro (=3,20 Euro/Tag) pro Kind) vorgesehen.

Wer sich das ausrechnet, weiß Bescheid

Wer mitdenkt bzw. beim Einkaufen mitrechnet, weiß, dass da schwerlich etwas übrigbleibt, um es ins Herkunftsland zu schicken. Studien zeigen, dass Menschen erst dann Geld an ihre Familien überweisen, wenn sie Geld verdienen.

Und es ist jedenfalls keine von der ÖVP sogenannte „Zuwanderung ins Sozialsystem“. Dazu gleich weiter unten mehr.

Weitere Schein-Debatten aus dem Österreich-Plan

Der Österreich Plan der ÖVP, auf dem diese Debatte beruht, enthält noch mehr Postfaktisches. Ein paar dieser Mythen wollen wir hier betrachten und die Fakten für sich sprechen lassen:

Diese Schlussfolgerung ist unrichtig. Das Sozialsystem ist KEINE Versicherungsleistung. Die Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung ist das unterste Auffangnetz für jene, die in eine Notsituation geraten sind.

In der „Vorher-Einzahlen-Logik“ würde das bedeuten, dass auch Kinder mit österreichischer Staatsbürgerschaft, die naturgemäß nicht gearbeitet haben, keine vollen Sozialleistungen kriegen könnten. Und es würde bedeuten, dass all jene Österreicher:innen, die aufgrund von Behinderungen, psychischen Erkrankungen, oder weil sie sich lange im Ausland aufgehalten haben, keine vollen Sozialleistungen bekommen könnten.

Damit würden gerade diejenigen vom Sozialsystem ausgeschlossen, die am meisten darauf angewiesen sind, weil gerade sie keine Leistungen aus der Arbeitslosen-Versicherung oder der Pensions-Versicherung beziehen könnten.

Eine solche Regelung würde also nicht nur anerkannte Flüchtlinge, die sozialrechtlich Staatsbürger:innen gleichgestellt sind, treffen, sondern alle Menschen, die in eine Notsituation geraten sind.

In das österreichische Sozialsystem kann man nicht „zuwandern“. So etwas gibt es gar nicht. Im Detail erklärt ist es so:

Sozialhilfe/Mindestsicherung

Sozialhilfe/Mindestsicherung können nur Menschen beziehen, die bereits hier leben (juristisch: hier „niedergelassen sind“) und auch hier gearbeitet haben (juristisch: „selbsterhaltungsfähig waren“).

Oder Menschen, die aufgrund eines positiven Asylbescheids österreichischen Staatsbürger:innen gleichgestellt sind. Sie können Sozialhilfe beziehen, um in der Folge „selbsterhaltungsfähig“ zu werden, also für die Zeit der Arbeitssuche und des Deutschlernens.

Zuwandern (Einwandern), also sich dauerhaft niederlassen, darf nur, wer dazu berechtigt ist. Das ist möglich, entweder aufgrund der Niederlassungsfreiheit (Grundfreiheit innerhalb der EU) oder einer Aufenthaltserlaubnis. Für eine solche gibt es bestimmte Kriterien (Einkommen, das Selbsterhaltungsfähigkeit ermöglicht, Nachweis ortsübliche Unterkunft, kein Bezug von Sozialleistungen…).

Drittstaatsangehörige müssen den Antrag auf Zuzug nach Österreich (z.B auf eine Rot-Weiß-Rot-Karte) bereits vom Ausland aus stellen und dort auch auf die Erteilung warten.

EU-Bürgerinnen können sich zwar niederlassen, müssen aber über ausreichend finanzielle Mittel und eine Krankenversicherung verfügen, um NICHT auf Sozialleisungen angewiesen zu sein. Wer das nicht nachweisen kann, wird ausgewiesen.

Ansonsten sind EU-Bürger:innen österreichischen Staatsbürger:innen gleichgestellt und haben nach Verlust einer Arbeit natürlich Anspruch auf Arbeitslosengeld. Sowohl für Drittstaatsangehörige als auch für EU-Bürger:innen gilt daher der Grundsatz, dass sie nur zuwandern können, wenn sie keine Belastung für das Sozialsystem darstellen.

Wer aber niedergelassen ist und arbeitslos wird, kann danach oder (wenn die Höhe des Arbeitslosengeldes zu gering ist) Sozialhilfeleistungen beziehen.

Anerkannte Flüchtlinge (auch Asylberechtigte genannt) sind österreichischen Staatsbürger:innen und EU-Bürger:innen gleichgestellt. Erst wenn sie ein sehr strenges Asylverfahren durchlaufen haben, in dem sie aufgrund der Gefahr einer Verfolgung als Flüchtlinge anerkannt wurden, sind sie bei Asylzuerkennung berechtigt, Sozialleistungen zu beziehen. - So etwas lässt sich nicht vorher planen, genauso wie der Ausgang eines Asylverfahrens, und kann daher auch nicht als „Zuwanderung“ betrachtet werden.

Die ÖVP will - nach dem Vorbild Dänemarks - volle Sozialleistungen erst nach 5 Jahren legalem Aufenthalt in Österreich gewähren.

Österreich ist aber, anders als Dänemark, in Asylfragen an die entsprechenden EU-Regelungen gebunden. Dänemark hat eine Sonderregelung in Bezug auf das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Demnach ist Dänemark nicht an dessen Beschlüsse gebunden.

Dies bedeutet: Dänemark kann eigene nationale Regelungen in Asylfragen treffen. - In Österreich ist die Genfer Flüchtlingskonvention und das Unionsrecht hingegen verpflichtend anzuwenden. Das heißt: Österreich kann nicht von sich aus Regelungen beschließen, die dem Unionsrecht widersprechen.

Die EU-Mitgliedstaaten - und damit natürlich auch Österreich - müssen sicherstellen, dass Asylberechtigte Zugang zu denselben Sozialleistungen haben, die den Staatsangehörigen des jeweiligen Landes zur Verfügung stehen. Das heißt, Asylberechtigte dürfen nicht schlechter gestellt werden, als österreichische Staatsbürger:innen, (auch nicht durch eine indirekte Diskriminierung). Dies schließt den Zugang zu Beschäftigung, Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen ein.

In ein Gesetz zu schreiben, dass Sozialleistungen erst nach 5 Jahren gewährt werden, während Österreicher:innen, die hier geboren sind, davon ausgenommen wären, ist so ein Beispiel für eine indirekte Diskriminierung, die der Europäische Gerichtshof wohl niemals akzeptieren würde.

Es gibt de facto keine Wohnung auf dem Wohnungsmarkt, die mit dem Betrag, den man als „Wohnkostenbeitrag“ aus der derzeitigen Sozialhilfe bekommt, gemietet werden könnte. Das heißt, dass die Sozialhilfe-Bezieher:innen einen Großteil der Sozialhilfe für die Miete verwenden müssen, und ihnen dementsprechend wenig Geld für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse übrig bleibt.

Aus der Sicht des/der Vermieter:in ist die Sache ebenfalls sehr kompliziert und würde – wenn die Sache mit den Sachleistungen umgesetzt würde – noch einmal komplizierter:

Wenn ein:e Mieter:in ihren Job verliert, und Sozialhilfe beziehen muss (niemand tut das gern oder freiwillig!), bekommt die Vermieterin die Miete der Person „gesplittet“. Also einen Teil von der Sozialhilfe-Behörde (den sog. Wohnkostenanteil), und den Rest aus dem Lebensunterhalt-Anteil von der Mieter:in.

Wenn die Mieterin jetzt aber Lebensmittelgutscheine oder Sachleistungen anstatt des Lebensmittelgeldes bekommt. Wird die Vermieterin diese Gutscheine oder – überspitzt gesagt – Kartoffel anstatt der restlichen Mietkosten entgegennehmen?

Dazu kommt, dass einige Bundesländer die Soziallhilfe erst im Nachhinein (manchmal mehrere Monate) auszahlen. Entstehen dadurch Mietrückstände droht die Räumungsklage. Der Vorschlag würde zu Obdachlosigkeit in großem Stil führen. 

Sachleistungen statt Geld wird vielerorts die Verwaltung überfordern

Wer das Sozialsystem zum Einsturz bringen und die vollziehende Verwaltung überfordern möchte, stellt von Geld auf Sachleistungen um. Eine solche Maßnahme steht in krassem Widerspruch zu den Vorgaben einer sparsamen, wirtschaftlichen und zweckmäßigen Verwaltung, und führt dazu, dass die Wartezeiten auf die Auszahlung der Sozialhilfe weiter ansteigen.

Zudem sind Sachleistungsgutscheine stigmatisierend (im Supermarkt, auf der Bank…) und können auch nicht überall eingesetzt werden. (Können Sachleistungsgutscheine am Land auch zur Bezahlung von Bustickets verwendet werden, um z.B. zum Deutschkurs zu fahren?)

Wer Sozialhilfe bezieht, muss dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Bei Nicht-Annahme von zumutbarer Beschäftigung wird die Sozialhilfe gekürzt oder gänzlich gestrichen.

Eine zusätzliche Verpflichtung zu unentgeltlicher Arbeit oder Arbeit gegen Taschengeld widerspricht dem Verbot der Zwangsarbeit und ist nicht umsetzbar.

Das ist bereits seit langem umgesetzt: Man nennt das Grundversorgung – siehe Schein-Debatten-Beitrag Nr. 2

In Vollversorgungs-Grundversorgungsquartieren gibt es außer Sachleistungen nur 40 Euro Taschengeld/Monat. Dieser Betrag ist wurde seit 20 Jahren nicht mehr wertberichtigt und hat seither einen Kaufkraftverlust von 40,25 % erlitten. Bei Ausgleich der Inflation müsste er inzwischen bei 67 Euro liegen. (Finanzrechner.at)

Mittlerweile sind viele Grundversorgungsquartiere von der Vollversorgung abgekommen. Vor allem neuere Einrichtungen, die auch Betreuungspersonal zur Verfügung stellen, kochen nicht mehr für die Bewohnerinnen, sondern zahlen ein Lebensmittelgeld von ca. 6,50/Tag aus, mit dem die Bewohner:innen selbst einkaufen und sich ihre Nahrung selbst zubereiten. Von diesem geringen Betrag kann in der Regel nichts angespart, oder anderweitig verwendet werden.

In Privatunterkünften (in denen auch 70 % der ukrainischen Geflüchteten leben) beträgt das Lebensmittelgeld pro Tag knapp 7 Euro für eine erwachsene Person und 3,20 Euro für ein Kind.
Die meisten Personen in Grundversorgung berichten, dass sie sich mit diesen Beträgen nicht ausreichend versorgen können.

Das wäre begrüßenswert. Derzeit sind viele Menschen vom Besuch von Deutschkursen ausgeschlossen. Auch dafür wäre außerdem das öffentliche Verkehrsmittel zum Deutschkurs zur Verfügung zu stellen.

Das ist geltende Gesetzeslage und wird äußerst rigide angewendet.

Fazit

Wenn man also den Integrationsteil im „ÖVP-Österreich-Plan" liest, kann man sehen: Es handelt sich um ein großteils auf postfaktische Annahmen beruhendes Sammelsurium von alten und wieder-aufgekochten ÖVP-Forderungen. Ein guter Teil ist und bleibt rechtlich nicht umsetzbar, ein anderer ist bereits geltendes Gesetz und wird als neu verkauft. Was darin gänzlich fehlt ist ein Plan für die Zukunft.

Autor:innen

Mag. Christoph Riedl
Grundlagen & Advocacy
Sozialexperte Migration, Asyl, Integration, Menschenrechte