Menschen mit Demenz sind mehr als ihre Krankheit. Viel mehr. Sie haben Emotionen und Bedürfnisse. Sie haben Ängste und ringen mit den Umständen, unter denen sie leben. Sie erleben schöne Momente und genießen das Leben. Wie jeder Mensch.
Anfang der 1990iger Jahre begann sich im Bereich der Gerontologie und Psychogerontologie ein Zugang zu etablieren, der Wohlbefinden bzw. Lebensqualität und Demenz miteinander in Verbindung bringt. Dieser Zugang ist eng verknüpft mit dem Namen Tom Kitwood, der Anfang der 1990iger in Großbritannien den – mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum vielfach rezipierten – personen-zentrierten Ansatz im Umgang mit Menschen, die mit Demenz leben, und das Dementia Care Mapping als entsprechendes Instrument in der Pflege und Betreuung etablierte.
Im deutschsprachigen Raum haben Andreas Kruse und das Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg die Lebensqualität als Schlüsselkonzept zur Versorgung von Menschen mit Demenz heranzogen und das „Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität demenzkranker Menschen“ (H.I.L.DE) entwickelten. Diese Ansätze treten dem gesellschaftlichen Bild von Demenz als (letzten Endes gänzlicher) Verlust von Lebensqualität entgegen und stellen über medizinische Versorgung hinausgehend wohlbefinden- und lebensqualitätsorientierten Konzepte von Betreuung und Pflege ins Zentrum.
"rementia" - wertschätzende Beziehungen können heilsam wirken
Tom Kitwood beschreibt einen Prozess, den er im Kontext der Pflege von Menschen, die mit Demenz leben, beobachtet hat: Wenn sich Lebensbedingungen und vor allem soziale Beziehungen verändern, sprich verbessern, dann kann es zu einer „rementia“ kommen: Wertschätzende Beziehungen können heilsam wirken und kognitive Fähigkeiten teilweise wieder anregen.
Nach Kitwood sind die klinischen Symptome der Demenz nicht unmittelbarer Effekt neurodegenerativer Veränderungen, sondern entstehen in einem Wechselspiel von kognitiven Einbußen und sozialpsychologischen Reaktionen. Aus teilnehmenden Beobachtungen extrapoliert er zwölf Hauptindikatoren relativen Wohlbefindens, die auf das Geschehen im sozialpsychologischen Raum rückführbar und von den neurologischen Prozessen der Demenz weitgehend unabhängig sind. Wenn Menschen, die mit Demenz leben,
- Wünsche und Bedürfnisse erfolgreich geltend machen,
- eine Bandbreite von Gefühlen zum Ausdruck bringen, im positiven wie im negativen,
- Sozialkontakte aktiv initiieren,
- anderen warmherzig und liebevoll begegnen,
- empfänglich sind für emotionale Bedürfnisse anderer,
- Selbstrespekt zum Ausdruck bringen, indem sie sich über Hygiene und Sauberkeit Gedanken machen,
- andere annehmen, die auch an Demenz leiden,
- humorvoll sind,
- sich selbst auf kreative Art und Weise zum Ausdruck bringen,
- Vergnügen am alltäglichen Leben haben,
- hilfsbereit sind,
- sich körperlich entspannen
dann ist das ein Ausdruck ihres Wohlbefindens. Indem Pflegende Menschen mit Demenz echte Subjektivität zubilligen und ihr relatives Wohlbefinden anstreben, helfen sie ihnen, ihr Personsein zu erhalten. Im Rückgriff auf Martin Buber versteht Kitwood Personsein als etwas, das sich in Beziehungen aktualisiert: Das Personsein ist nicht an bestimmte (kognitive) Eigenschaften oder Fähigkeiten, die Menschen haben oder nicht haben, gebunden, sondern an Beziehungen, die es Menschen mit Demenz ermöglichen, sich als Personen zu erfahren.
Was uns zu Menschen macht
Auch die von Andreas Kruse geleitete Interventionsstudie DEMIAN (Demenzkranke Menschen in Individuell bedeutsamen Alltagssituationen) geht davon aus, dass es für Menschen, die mit Demenz leben in ihrem Alltag wichtig ist, dass sie als Personen angesprochen werden. Die erste Säule in diesem Ansatz ist die Kenntnis von Biographie und Daseinsthemen.
In der Begleitung von Menschen mit Demenz gilt es, deren Daseinsthemen kommunikativ zu erschließen, um sie für Interventionen, welche die Person aktivieren und fördern, zu nutzen – wie im von Sonja Ehret geschilderten Fall von Frau Kate, die ihr Leben lang im eigenen Haus, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, mit Katze gelebt hat. Als Frau Kate in der daseinsthematischen Begleitung eine Katze auf den Schoß gesetzt wurde, löste das Erinnerung an ihr Leben mit der Katze sowie – über Assoziationsketten – an ihre Nichten aus und darüber hinaus tiefes Lachen, das als positive Emotion zu verstehen ist
Bei ihnen handelt es sich um zentrale Anliegen, die den Einzelnen über ein alltägliches Maß hinaus beschäftigen, und sich in wiederholten Gedanken, Aussagen, Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen äußern. Zugleich dienen sie als Quelle von Sinnerleben und offenbaren die Bindung des Menschen an das Leben. ... Daseinsthemen weisen eine hohe biographische Kontinuität auf. ... Sie stellen das Material dar, das dem Menschen bis zuletzt bleibt, auch wenn es bei Demenz nur noch brüchig oder in Resten vorhanden ist.
Das bringt uns zur zweiten Säule, zum – auch im H.I.L.DE zentralen – emotionalen Erleben der Betroffenen, das nicht nur eine wichtige Komponente der Lebensqualität, sondern eine Ressource bei Menschen auch in fortgeschrittenem Stadium der Erkrankung darstellt, auf die Angehörige, Pflegende und ÄrztInnen in der Kommunikation zurückgreifen können.
Positiv erlebte emotionale Bindungen und sinnliches Erleben bekommen zunehmend Gewicht.
Die Daten aus Erhebungen zu H.I.L.DE zeigen, dass demenzkranke Menschen (unabhängig vom Stadium ihrer Erkrankung) in der Lage sind, Alltagssituationen differenziert wahrzunehmen und ihre emotionale Befindlichkeit nonverbal zum Ausdruck zu bringen.
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Aktivieren von dem, was uns in Fleisch und But übergegangen ist
Umgekehrt zeigen Studien zum subjektiven Erleben und zur emotionalen Befindlichkeit von Menschen, die mit Demenz leben, dass negative Gefühlslagen nicht unmittelbar aus ihren kognitiven Einschränkungen, sondern aus den Reaktionen ihrer Umwelt bzw. Mitmenschen darauf resultieren, sprich sozial bedingt sind: Gefühle wie Frustration, Ärger, Reizbarkeit, Misstrauen, Scham, Unsicherheit und Traurigkeit wurzeln in der Furcht, sich zu blamieren oder gedemütigt zu werden oder anderen zur Last zu fallen. Im zwischenmenschlichen Kontakt mit Fehlern und Unvermögen konfrontiert zu werden, führt zu Selbstzuschreibungen der Unfähigkeit, zu negativen Selbstwirksamkeitserwartungen und letztendlich zu sozialem Rückzug, der oft bedeutet, dass Menschen mit Demenz Tätigkeiten einstellen, die ihnen Spaß gemacht haben.
Positive Emotionen – und mitunter die zugehörigen biographischen Erinnerungen, die sich sonst dem Zugriff entziehen – wecken auch vertraute Stimmen, Melodien, Bewegungsabläufe, Berührungen, Gerüche, Räume und Umgebungen. In ihnen bleibt die Lebensgeschichte gegenwärtig. Denn das Gedächtnis erschöpft sich nicht in bewussten Erinnerungen. Gedächtnis ist auch Leibgedächtnis – das, was uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Mit vertrauten Wegen und Orten, bekannten Gerüchen und Speisen, Festen im Jahreskreis, Spielen, Liedern, Tischsitten, Familiensprüchen und Gebete zu arbeiten, fördert die Lebensqualität von Menschen mit Demenz.
Wenn wir Demenz verstehen wollen, ist es meiner Ansicht nach entscheidend, Personsein im Sinne von Beziehung zu sehen. Selbst bei sehr schwerer kognitiver Beeinträchtigung ist oft eine Ich-Du-Form der Begegnung und des In-Beziehung-Tretens möglich.