Diakonisse Helga Sikora im Interview: "Das Loslassen war nicht leicht"
- Story
Diakonissen-Oberin Schwester Helga Sikora im 87. Lebensjahr verstorben
Mehr erfahrenWas hat Sie in der Jugend religiös besonders geprägt?
Ich wurde am 6. Oktober 1937 in Wels geboren. Mein Vater war Tischlermeister, meine Mutter Hausfrau, ich habe auch zwei Brüder. Meine Eltern liebten Kleintiere, für die wir Kinder zu sorgen hatten. In unserer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung waren das ein Kanarienvogel, ein Meerschweinchen, ein Frosch und mehrere Goldfische, im Garten hinter den Gemüsebeeten stand zudem ein Hasenstall. Wir wurden evangelisch erzogen. Christliche Inhalte haben mich schon immer sehr interessiert. Gehört habe ich davon in der evangelischen Jungschar. Besonders sprach mich der Konfirmationsunterricht an. Die Konfirmation in der Welser Christuskirche durch Herrn Pfarrer Wesenik war ein wichtiges Ereignis für mich.
Wann haben Sie Ihre Berufung zur Diakonisse verspürt?
Eigentlich war vorgesehen, dass ich nach Abschluss der Pflichtschule in einer Fabrik arbeiten sollte. Aber Diakonisse Mitzi Hubmer, die als ehemalige Schülerin der evangelischen Schule in Jebenstein meine Familie gut kannte, empfahl mir, das Mutterhaus Bethanien in Gallneukirchen anzuschauen. So begann ich dort als Haustochter, um Lebensart und Haushaltsführung kennenzulernen. Anfangs hatte ich nicht vor, Diakonisse zu werden. Es war für mich eher eine Überbrückung. Doch es gefiel mir in Gallneukirchen. Es gab eine eigene Schwester, die für die Haustöchter zuständig war. Sie ist mit uns spazieren gegangen, hat mit uns gesungen und die Bibelstunden gehalten. Sie hat uns Geschichten vorgelesen, wir führten Weihnachtsspiele auf und sangen im Kirchenchor. Damals durften Haustöchter während des Jahres nicht nach Hause fahren und erst nach drei Monaten besucht werden. Für uns war das aber keine Strafe. Dadurch ist die Gemeinschaft sehr gewachsen. Nach einem halben Jahr wusste ich: Das ist mein Weg.
Was mich sehr geprägt hat, war die Ausstrahlung der damaligen Diakonissen. Das Leben im Mutterhaus hat mich fasziniert. Ich bin dann am 2. August 1952 vom Mutterhaus in das Haus Waldheimat gekommen, wo ich die Haushaltungsschule besuchte. Damals wurde auch die so genannte "Blaue Schule" eröffnet, für Mädchen, die Diakonissen werden wollten, aber noch zu jung waren. Die damalige Oberin lud mich dazu ein. Ich war sofort Feuer und Flamme, dachte aber, dass mein Vater nicht einverstanden sein würde. Doch meine Eltern gaben ihre Einwilligung. Als mit 18 Jahren für mich der Entschluss feststand, Diakonisse zu werden, verweigerte mein Vater aber die Erlaubnis. Das war mir völlig unverständlich.
Diakonie-Geschichte als Reihe von Geschichten von Personen
Im Jubiläumsjahr 2024 erzählen wir die Geschichte der Diakonie. Aber nicht als Geschichte von Organisationen, sondern als die vielen und vielfältigen Geschichten von Personen, die über die Jahrzehnte Diakonie gelebt, erlebt, geprägt haben: Gründer:innen, Mitarbeiter:innen, Klient:innen.
25 Personen aus 150 JahrenWie verlief Ihr weiterer Weg?
Von 1955-1958 besuchte ich erfolgreich die Krankenpflegeschule am Landeskrankenhaus Graz. Danach war ich 21 Jahre alt und volljährig. Ich konnte selbst entscheiden und bewarb mich als Probeschwester in Gallneukirchen. Als meine Mutter an Krebs erkrankte, dachte ich, jetzt sei es mit meinem Diakonissen-Wunsch vorbei. Doch ausgerechnet in dieser schweren Zeit änderte mein Vater seine Meinung und stimmte zu, dass ich nach der Beerdigung und all den Arbeiten danach in das Mutterhaus zurückkehren darf. Ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter wurde ich im Juni 1963 in der Christuskirche in Gallneukirchen als Diakonisse eingesegnet – als eine der fünf letzten Schwestern in Österreich, die sich für diesen Weg entschieden.
Was waren Ihre ersten Aufgaben als Diakonisse?
Ich war zunächst abwechselnd im Kinderheim Weikersdorf, im Haus Martinstift, im Haus Zoar, in der Schwesternabteilung des Mutterhauses und im Haus Abendfrieden im Einsatz. 1970 wurde ich mit der Leitung des Säuglingsheims Mühle in Gallneukirchen betraut. Davor musste ich eine zweijährige Ausbildung zur Säuglingsschwester in Stuttgart und ein Praxisjahr in der Säuglingsstation des Diakonissen-Krankenhauses in Linz absolvieren. Zu meinen Aufgaben als Hausmutter der "Mühle" gehörte auch die besondere Führung der dort mitarbeitenden Jugendlichen. Im Lauf der nächsten Jahre wandelte sich das Haus vom Säuglingsheim zu einem Wohnhaus für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. 1985 bis 1986 durfte ich in Linz den Universitätslehrgang für Sozial-Management besuchen, eine Ausbildung für Führungskräfte mit Kommunikationstraining, Personal- und Organisationsmanagement und Dienstleistungsmarketing. Ich unterrichtete auch ein Jahr lang an der zum Diakoniewerk gehörenden Fachschule für Sozialberufe/Behindertenarbeit.
Wie kam es zu Ihrer Wahl zur Oberin des Mutterhauses in Gallneukirchen?
Die scheidende Oberin Diakonisse Marianne Steinacher hat mich 1988 als Nachfolgerin vorgeschlagen. Sie meinte, sie sei "von Herzen froh, dass wir überhaupt noch in der Lage sind, jemanden aus unseren eigenen Reihen zu haben". Der Schwesternrat des Mutterhauses folgte ihrer Empfehlung. Ich wurde – bei einer Enthaltung – einstimmig gewählt und vom Vorstand des Diakoniewerkes bestätigt. So wusste ich, dass es auch Gottes Wille war, dass ich das Amt antrete. Ich habe die Leitung der Mühle zurückgelegt und am 1. November 1988 die neue Aufgabe übernommen. Als Oberin war ich von diesem Tag an auch 20 Jahre lang Vorstandsmitglied im Evangelischen Diakoniewerk Gallneukirchen. Am 4. Dezember 1988 wurde ich feierlich in das Amt der Diakonissen-Oberin eingesegnet.
Was war Ihre größte Herausforderung?
Dass immer weniger Schwestern für die Arbeit im Diakoniewerk zur Verfügung standen und keine neuen mehr nachkamen. 1988 gab es noch 67 Diakonissen und 7 diakonische Schwestern im Mutterhaus, davon 21 im aktiven Einsatz, heute sind es nur noch zwei. Trotzdem war es immer meine Aufgabe, die Schwesternschaft geistlich zu fördern und für jede einzelne Diakonisse zu sorgen – in gesunden und kranken Tagen, im Alter und auf dem allerletzten Stück ihres Lebensweges. Stellen Sie sich vor, wie viele von ihnen ich auf dem Friedhof in Gallneukirchen zu Grabe getragen habe.
Ein besonders schmerzhafter Schritt war die Aufgabe des traditionsreichen Mutterhauses Bethanien nach mehr als 100 Jahren. Am 21. Juni 2010 übersiedelte ich mit den letzten, zumeist hochbetagten und pflegebedürftigen Diakonissen in das adaptierte Feierabendhaus Abendfrieden. Der ungewohnte Komfort dort konnte nicht aufwiegen, dass diese Verkleinerung sinnbildlich für das langsame Auslaufen einer Lebensform – nämlich unserer – stand. Bewegend war vor allem der Moment, als nach der letzten Andacht im Mutterhaus Kreuz, Kerze und Blumenschale aus dem Betsaal in den neuen Andachtsraum im Haus Abendfrieden getragen wurden. So hatten es die Schwestern auch gemacht, als sie 1909 vom alten in das neue Mutterhaus zogen.
Obwohl immer mehr Diakonissen aus dem aktiven Dienst ausschieden, wurden die Aufgaben des Diakoniewerkes fortgeführt und sind sogar enorm angewachsen. Wie war das möglich?
Es wäre undiakonisch und nicht Gottes Wille gewesen, wegen fehlender Diakonissen wichtige Arbeitsbereiche zu verkleinern oder gar aufzugeben. Das Loslassen war nicht einfach. Aber wir sind heute dankbar, dass wir unsere Arbeit in die Hände so vieler motivierter weltlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter legen konnten. Als Vorstandsmitglied des Diakoniewerks durfte ich all diese neuen Zielsetzungen und Aufgabenstellungen mitgestalten und mitentscheiden. Dafür bin ich dankbar.
Was waren aus Ihrer Sicht Meilensteine in Ihrer Zeit als Oberin und Verantwortungsträgerin des Diakoniewerkes?
Da möchte ich einige nennen: 1988 die Eröffnung des neuerrichteten Operations- und Bettentraktes im Diakonissen-Krankenhaus Linz; 1991 die Einrichtung der neuen Dialysestation im Diakonissen-Krankenhaus Schladming; ab 1993 die Inbetriebnahme von drei Fachschulen für Altendienste und Pflegehilfe in Gallneukirchen, Salzburg und Graz; 1998 die Eröffnung und Segnung der Werkstätte Mauerkirchen in Oberösterreich und der Neubau des Hauses Elisabeth in Gallneukirchen; 2007 die feierliche Eröffnung und Segnung des neuen Diakonissen-Krankenhauses in Schladming. Nachdem Rektor Gerhard Gäbler sein langjähriges segensreiches Wirken beendet hatte, war ich daran beteiligt, eine Nachfolge für ihn zu finden.
Sie haben sich trotz all Ihrer Aufgaben immer religiös weitergebildet und -entwickelt.
Ja, denn am Ende geht es doch genau darum. Ich bin Lektorin der Evangelischen Kirche A. B., habe einen Theologischen Grundkurs besucht, um ehrenamtlich in der Krankenhaus- und Altenheimseelsorge mitarbeiten zu können, und einen Sakramentskurs. Auch meine Rolle als Bezirksmutter der Frauen-Gebets-Bewegung für Westösterreich habe ich mit Freude ausgefüllt.
Schwester Sikora, Sie sind die längst dienende und vielleicht letzte in einer Reihe von insgesamt sieben Oberinnen seit der Gründung der Schwesternschaft vor fast 150 Jahren. Wie sehen Sie das?
Zu meinem 50-jährigen Schwesternjubiläum hat die damalige Rektorin Christa Schrauf versucht, für mich ein Lebensmotto zu formulieren: "Ein großartiges Erbe vertrauensvoll in die Zukunft tragen." Ja, das ist wahrlich ein schöner Satz, den wir auch weiterhin praktizieren wollen. Aber wie? Ich denke, dass wir das aus eigener Kraft nicht können. Da müssen wir auch danach trachten, dass unser Glaube an Gott in Jesus Christus erhalten bleibt – durch Gebet und Stille Zeiten wie bisher. Das Bemühen um Spiritualität von Vorstand Dr. Rainer Wettreck geht auch in diese Richtung. Gott ist es, der uns die Liebe und das Verständnis für den Nächsten schenkt. Wie es in dem alten Lied heißt: "Drum aufwärts froh den Blick gewandt und vorwärts fest den Schritt. Wir gehen an unsres Meisters Hand, und unser Herr geht mit."